In zwei aktuellen Entscheidungen beschäftigen sich der zweite Zivilsenat des BGH und das OLG Düsseldorf erneut mit der Frage, welche Kriterien für eine positive Fortbestehensprognose im Rahmen der Überschuldungsprüfung nach § 19 Abs. 2 InsO anzusetzen sind. Interessant ist die Betrachtung beider Entscheidungen, weil sie sich im Kern diametral widersprechen, aber auch, weil sich daran die Maßstäbe an die Überwachungs- und Planungspflichten der Geschäftsleitung nicht nur von Startups gut darstellen lassen.
Die Entscheidung des BGH
Der zweite Zivilsenat des BGH hat in seinem Urteil vom 13. Juli 2021 – in dem es zuvörderst um die Entscheidung geht, ob und inwieweit bestimmte Inkasso-Dienstleistungen gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz verstoßen – die Chance genutzt, sich ab Rz 65 sehr ausführlich zur Frage zu äußern, wann eine sog. „weiche“ Patronatserklärung bei der Aufstellung einer Fortbestehensprognose zu berücksichtigen ist. Von einer weichen Patronatserklärung spricht man, wenn die aus der Erklärung des Patrons (häufig der Muttergesellschaft in einem Konzern) gegenüber dem Erklärungsempfänger (regelmäßig der Tochtergesellschaft) folgende Rechtswirkung eben nicht verbindlich sein soll, also kein (einklagbarer) Rechtsanspruch aus ihr hergleitet werden kann (s. zur „harten“ Patronatserklärung hier).
Der BGH entschied nunmehr folgendes:
„Die Berücksichtigung etwaiger Finanzierungsbeiträge Dritter im Rahmen der der Fortbestehensprognose zugrundeliegenden Ertrags- und Finanzplanung [setzt] nicht zwingend voraus, dass diese rechtlich gesichert sind bzw. eine rechtsverbindliche Zusicherung gegeben ist.“
„Vielmehr kommt es, wenn die Finanzierung der Sanierung einer in der Krise befindlichen Gesellschaft von den Sanierungsbeiträgen Dritter abhängt, darauf an, ob mit diesen und damit dem Gelingen der Sanierung insgesamt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gerechnet werden kann.“
„Geht es darum, ob sich bei einer bereits in der Krise befindlichen Gesellschaft aufgrund der Ertrags- und Finanzplanung abzeichnende Liquiditätslücken nur schließen lassen, wenn man eine Mittelzufuhr durch einen Patron unterstellt, die dieser lediglich im Rahmen einer weichen Patronatserklärung zugesagt hat und auf die demgemäß kein Rechtsanspruch besteht, sind dem Beurteilungsspielraum der Geschäftsleitung vor dem Hintergrund der Interessen der Gläubiger der Gesellschaft allerdings enge Grenzen gesetzt.“
„[Insbesondere] genügt der Hinweis darauf, dass der Patron in der Vergangenheit finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt hat, mögen diese auch erheblich gewesen sein, für sich genommen nicht.“
Im Endeffekt ist die Entscheidung allerdings weniger bahnbrechend, als man meinen möchte. Bislang lautete die Regel, dass eine „weiche“ Patronatserklärung schlicht keine Berücksichtigung in der Fortbestehensprognose fand. Der zweite Senat hat jetzt eine weitere Diskussionsschleife geschaffen und stellt zunächst in einer Wahrscheinlichkeitsprüfung ab, ob und inwieweit eine vernünftige Geschäftsleitung mit der Einhaltung der aus der „weichen“ Patronatserklärung folgenden „Naturalobligation“ rechnen könne, nur um im Folgeschritt dann die „klassische“ Annahme zu negieren, dass der Patron schon zahlen werde, wenn er in der Vergangenheit gezahlt habe. Damit dürften im Endeffekt die nunmehr gezogene Diskussionsschleife zwar zu interessanten theoretischen Diskussionen führen, in der Praxis dürfte die Entscheidung einer qualifizierten und gut beratenen Geschäftsleitung aber nicht anders ausfallen, als vor dem Urteil: eine „weiche“ Patronatserklärung wird grundsätzlich nicht beachtet.
Die Entscheidung des OLG Düsseldorf
Interessanter ist da schon der Ansatz des OLG Düsseldorf in seiner Entscheidung vom 20. Juli 2021 zur Frage der Kriterien, die für eine positive Fortbestehensprognose bei sog. „Startups“ anzusetzen sind. Demnach sind „bei einem Start-Up Unternehmen […] die Grundsätze, die der Bundesgerichtshof für eine positive Fortbestehensprognose aufgestellt hat, nicht uneingeschränkt anwendbar.“ Das OLG führt in seiner Begründung weiter aus, dass – da derartige Unternehmen zunächst auf eine Drittfinanzierung angewiesen sind (um Marktanteile zu gewinnen) – der BGH bei der Prüfung der Fortbestehensprognose schon nicht Feststellungen zur künftigen Ertragsfähigkeit (Selbstfinanzierungsfähigkeit) verlange. Davon ausgehend soll nach OLG Düsseldorf „die dokumentierte Zahlungszusage [eines] Gesellschafters“ zur Annahme einer positiven Fortbestehensprognose genügen. Und dies auch dann, wenn „die weitere Finanzierung dabei unter dem Vorbehalt stand, dass realistische Planungen vorgelegt werden und der Liquiditätsbedarf nachgewiesen wird.“ Auch sei ein „rechtlich gesicherter und damit einklagbarer Anspruch auf die Finanzierungsbeiträge […] jedenfalls, […] nicht Voraussetzung für eine positive Fortbestehensprognose.“ Die Ausführungen des entscheidenden Senats gipfeln in der Aussage: „Vielmehr darf der Geschäftsführer von einer positiven Prognose ausgehen, solange nicht konkret wahrscheinlich ist, dass der Finanzierer das Start-Up Unternehmen nicht weiterfinanzieren wird.“ Der Senat gibt schon zuvor zu verstehen, dass zuvor bereits erfolgte Zahlungen auf ähnlicher Grundlage (Gesellschafterdarlehen nach Fiananzierungsplanung) einen Anhaltspunkt dafür bilden können, dass weitere Zahlungen erfolgen werden.
Fazit
Zunächst scheinen die Entscheidungen des BGH und des OLG Düsseldorf in der Frage der Rechtssicherheit des in eine Fortbestehensprognose einzubeziehenden Anspruchs miteinander konform zu gehen: Beide Gerichte unterstellen zunächst unisono, dass auch nicht einklagbare Ansprüche ihren Weg in eine Fortbestehensprognose finden können. Während das OLG Düsseldorf in der Folge dann einen Rückschluss von zuvor erfolgten Zahlungen in ähnlicher Lage zulässt, verschließt der 2. Zivilsenat des BGH aber genau diesen Weg. Zudem kehrt gerade die letzte Aussage der entscheidenden Richter aus Düsseldorf die erforderliche Wahrscheinlichkeitsprüfung im Endeffekt um: So müsste nach dem Düsseldorfer Beschluss (vom Insolvenzverwalter) dargelegt werden, dass es „konkret wahrscheinlich“ war, dass der Finanzierer seine Finanzierungstätigkeit einstellen würde. Dies dürfte vor dem BGH keinen Bestand haben, der ja insgesamt den Nachweis dafür verlangt, dass die Fortführung „überwiegend wahrscheinlich war“, also von der Geschäftsleitung belegt wissen will, dass es im konkreten Fall von einer weiteren Finanzierungstätigkeit des Finanzierers ausgehen durfte. Auch legt der BGH zumindest bezüglich der Überwachungspflichten höhere Maßstäbe an Startups an, als an „normale“ Unternehmen (s. zur Entscheidungsbesprechung des vom OLG Düsseldorf ebenfalls zitierten BGH, Urt. v. 14.05.2007 – II ZR 48/06, hier) und es ist fraglich, ob er von diesem Kurs bei den vom OLG Düsseldorf diskutierten Planungspflichten abweichen wird.
Für die Beratungspraxis sind die beiden hier diskutierten Entscheidungen wenig fruchtbar, denn im „Fog of War“ der Beratung der Geschäftsführung in einer Unternehmenskrise wird man die Feinheiten dieser Kautelarjurisprudenz nicht austesten wollen. In der Praxis bleibt damit die „weiche“ Patronatserklärung ein No-Go und bei Startups wird man eher der harten Linie des BGH denn der weichen des OLG Düsseldorf folgen, also erhöhte Maßstäbe an die Überwachungs- und Planungspflichten anlegen. Daran ändert auch der Hinweis des OLG Düsseldorf auf das seinerzeit legendäre sog. „Dornier“-Urteil des BGH aus dem Jahre 1992 nichts. Denn zum einen hat sich seit diesem – den zweistufigen Überschuldungsbegriff statuierenden – Urteil des BGH die (Rechtsprechungs-)Welt generell weiter gedreht, zum anderen hat der BGH in der genannten Entscheidung weder explizit entschieden, dass bei Start-ups die „Ertragsfähigkeit (Selbstfinanzierungskraft) nicht als Voraussetzung einer positiven Fortführungsprognose“ anzusehen sei (Rz. 13) noch, dass ein „rechtlich gesicherter und damit einklagbarer Anspruch auf […] Finanzierungsbeiträge […] nicht Voraussetzung für eine positive Fortbestehensprognose“ sei (Rz. 14), wie das OLG Düsseldorf behauptet.
BGH-Urteil v. 13.7.2021 – II ZR 84/20 (ab Rz. 65)