Ach ja, die „Volatilität“ bei den Unternehmensinsolvenzen. War ich mir vor zwei Monaten noch sicher, dass „zumindest für die nächsten Monate kein nennenswerter Anstieg der Insolvenzen zu erwarten sein“ dürfte (hier), vor einem Monat dann, dass angesichts steigender Zahlen die nächste Zeitenwende ins Haus stehen würde (hier), sinkt nun – wenig erwartungsgemäß – die Zahl der Insolvenzanträge über Unternehmen im April 2022 erneut – nach Meldungen von Destatis sogar gleich um über 20% (hier). Auch wenn der IWH-Insolvenztrend dagegen eher eine „Plateauphase“ verkündet (hier), so stellt sich doch die Frage, ob der erneute Rückgang eher einer Zurückhaltung von Geschäftsleitern geschuldet ist, um Ostern herum einen Insolvenzantrag zu stellen, oder ob die vormals verkündete Trendwende gleich wieder abzusagen ist. Ich glaube eher an ersteres und zwar aus folgenden Gründen:
1. Die Inflation nicht nur in Deutschland hat Werte erreicht, die zuletzt vor 40 Jahren gesehen wurden (s. umfassende Darstellung hier). Zwar ist die Inflationsrate in den USA im April leicht gesunken, mit 8,3% aber immer noch sehr hoch (hier). Nachdem die US-Fed den Leitzins schon im März um 0,25% angehoben hatte, hat sie ihn im Mai um weitere 0,5% angehoben (hier). Auch mehren sich die Zeichen, dass die EZB im Laufe des Jahres aus ihrer Negativzinspolitik aussteigen könnte (hier). An den Märkten wird dieser sich manfesterierende Ausstieg der Zentralbanken aus der lockeren Geldpolitik schon eingepreist. So können Emittenten von Anleihen unterhalb des Investment-Grades nicht mehr auf negative Zinsen hoffen (gute Übersicht bei Wolfstreet, hier). Aber auch die Bauzinsen in Deutschland steigen seit Jahresbeginn auf seit Jahren nicht gesehene Werte (hier). Bei diesen sich verschlechternden Finanzierungsumfeld dürfte es auch nur eine relativ geringe Rolle spielen, wenn Wirtschaftsminister Habeck für eine längere Frist zur Rückzahlung von Corona-Hilfen plädiert (hier).
2. Etliche deutsche Branchen und Institutionen melden strukturelle Probleme, allen voran natürlich der Automobilsektor oder der Einzelhandel. Daneben sind aber auch andere Bereiche betroffen, die sonst nicht so sehr im Rampenlicht stehen: Pensionskassen (hier), Entsorger (hier) oder Krankenhäuser (hier). Durch die sich mehr und mehr abzeichnende Finanzwende dürften die Probleme in diesen Bereichen sich noch weiter verschärfen.
3. Für den Moment dürfte Corona in der deutschen Wirtschaft keine Rolle spielen, aber niemand weiß, was der Herbst bringen wird. Diese Unsicherheit dürfte sich auf die aktuellen Planungen von Unternehmen niederschlagen. In China dagegen zeigen sich die Folgen der von der Zentralregierung verfolgten No-Covid-Strategie immer deutlicher (hier) und die Auswirkungen auf die stark vom China-Geschäft abhängige deutsche Wirtschaft sind – auch jenseits reißender Lieferketten – bereits jetzt immens (hier).
4. Der bisherige Verlauf indiziert, dass der Krieg in der Ukraine noch länger andauern wird (s. jeweils aktualisiert hier). Genauer gesagt, derzeit kann niemand ein potentielles Ende auch nur absehen. Dementsprechend werden erste Befürchtungen laut, wonach schon deswegen mehr Unternehmenspleiten auch in Deutschland zu erwarten seien (hier).
5. Als Folge verstärkter Verfolgung nationaler Sicherheitsinteressen, zu denen auch eine Rückholung von Lieferketten ins jeweilige Inland gehört, nimmt die sich seit Jahren abzeichnende De-Globalisierung an Fahrt auf (s. nur hier). Keine gute Nachricht für die auf Export getrimmte deutsche Wirtschaft, deren Wachstumsaussichten sich bereits seit März ziemlich eintrüben (hier). Weder ist also mit einer kurzfristigen Rückkehr auf den Wachstumspfad noch mit einer langfristigen Rückkehr zum bislang erfolgreichen Geschäftsmodell der „Deutschland AG“ zu rechnen.
Jeder einzelne dieser angesprochenen Punkte für sich genommen dürfte „hemmend“ auf ein weiteres Absinken der eh schon auf einem rekord-niedrigen Niveau angelangten Unternehmensinsolvenzen wirken. Im Zusammenspiel ergeben sie einen für die deutsche Wirtschaft schwer verdaulichen Mix. Dementsprechend gehe ich davon aus, dass sich die Unternehmensinsolvenzen zwar in einem – statistisch bedingten (s. schon hier) – Zick-Zack-Kurs, aber spätestens ab Spätsommer/ Herbst kontinuierlich weiter nach oben entwickeln werden. Der erneute Blick ins Ausland stützt diese Prognose, so hat sich im Vereinigten Königreich die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im ersten Quartal 2022 mehr als verdoppelt (hier). Insoweit verläuft die Entwicklung also parallel zu der (bereits hier gemeldeten) Entwicklung in Österreich und der Schweiz, wo die Verfahrenszahlen bereits seit Ende letzten Jahres zulegen.
Gegenüber den Vormonaten mehrt sich auch die neu-deutsch „anekdotische Evidenz“ in diese Richtung: So fiel jüngst die Modekette Orsay in die Insolvenz (hier), dagegen konnte der Automobilzulieferer WKW.Automotive wohl noch außergerichtlich gerettet werden (hier). Während die Stimmung im (Distressed) M&A-Markt, sozusagen als „Ausweichmöglichkeit“ für eine Restrukturierung oder Insolvenz (so zumindest der VID, hier) insgesamt wohl noch uneinheitlich eingeschätzt wird (hier und hier), scheiterte der Verkauf des Büroartikel-Händlers Staples, der nun komplett abgewickelt wird (hier). Aber auch bei Wirecard läuft es nur für den Insolvenzverwalter reibungslos: Nachdem das LG München nun erstinstanzlich die Bilanzen des Unternehmens für die Jahre 2017 und 2018 für nichtig erklärt hat (hier) dürfen sich die Aktionäre schon mal auf die Anfechtung ihrer Dividenden einrichten.
Fazit: das zwischenzeitliche erneute Absinken der Insolvenzanträge für Unternehmen dürfte – wenn es nicht sowieso nur ein österlich bedingter statistischer Ausrutscher war – nur eine Atempause vor einem mehr oder minder signifikanten Anstieg sein. Dafür sprechen nicht nur die (anziehenden) Zahlen aus dem europäischen Ausland und einige anekdotische Evidenz, sondern auch die sich zumindest nicht verbessernden, größtenteils sich sogar stetig verschlechternden Rahmenbedingungen für die deutsche Wirtschaft. Der M&A-Markt als „Vorstufe“ und Konsolidierungsinstrument für strauchelnde Branchen dürfte auf Grund des absehbaren Abziehens von Liquidität aus den Märkten durch die westlichen Zentralbanken an Attraktivität verlieren. Folglich dürfte die Zahl von Restrukturierungen und Insolvenzen im Verlaufe des Jahres steigen. Die Frage ist nur, wie stark.