EU-Harmonisierungsrichtlinie – ungelegte Eier, aber oho

Während die Bundesregierung sich für diese Legislaturperiode keine insolvenzrechtlichen Ziele gesetzt hat, arbeitet die EU-Kommission unverdrossen an einer EU-weiten Harmonisierung des Insolvenzrechts. Dementsprechend konsequent unterbreitete sie bereits Anfang Dezember 2022 den Vorschlag einer entsprechenden Richtlinie. Seitdem branden die Wellen in Deutschland hoch – könnte die Richtlinie doch so manche deutsche Institution ins Wanken bringen. Man sollte die Praxisrelevanz einer derartigen Regelung nicht unterschätzen, weswegen sich dieser Artikel mit noch ungelegten Eiern befasst.

Grundlagen

Die EU-Kommission beruft sich bei der Vorlage des „Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts“, so der vollständige deutsche Titel (hier), auf ihr eigenes Vorhaben, die sog. „Kapitalmarktunion“ voranzutreiben (s. zu den Hintergründen hier, zur Kritik daran insbesondere hier). Weitzmann argumentiert mit durchaus beachtenswerter Begründung, dass der EU schlicht die Rechtssetzungsbefugnis für die Harmonisierung des Insolvenzrechts fehle und der Vorschlag schon deswegen rechtswidrig sei (ZInsO 2023 2023, 757, hier).

Inhaltlich umfasst der Entwurf sieben Themenfelder:

  1. Insolvenzanfechtungsrecht, Teil II
  2. Aufspüren von Vermögenswerten, Teil III
  3. Vorinsolvenzlich ausgehandelte Unternehmensverkäufe („Pre-Pack-Verfahren“), Teil IV
  4. Insolvenzantragspflichten für Geschäftsführer, Teil V
  5. Vereinfachte Liquidation insolventer Kleinunternehmen, Teil VI
  6. Gläubigerausschüsse, Teil VII
  7. Transparenzmaßnahmen zum nationalen Insolvenzrecht, Teil VIII

Insbesondere die Teile IV („Pre-Pack“) und VI (Vereinfachte Liquidation / „Verwalterloses Verfahren“) sorgen derzeit für heiße Diskussionen in der deutschen Fachwelt, aber auch die vorgeschlagenen Vorschläge zur Harmonisierung des Anfechtungsrechts (Teil II) dürften im Falle ihrer Umsetzung in Deutschland für Diskussionen sorgen. Der nachfolgende erste Überblick zur vorgeschlagenen Harmonisierung konzentriert sich in absteigender Prioritätsreihenfolge zunächst auf diese Themen.

Vereinfachte Liquidation insolventer Kleinunternehmen / „Verwalterloses Verfahren“ – Teil VI

Die EU-Kommission schlägt in Teil VI zur Harmonisierung vor, dass in der Insolvenz von sog.  „Mikrounternehmen“ mit weniger als 10 Mitarbeitern und weniger als zwei Millionen Euro Umsatz oder Bilanzsumme in der Regel kein Verwalter bestellt werden, also eine Abwicklung der Insolvenz und der Gesellschaft in Eigenverwaltung („Debtor-in-possesion“, DIP) erfolgen soll. Nach Art. 43 Abs. 4 b) soll die Verfahrensleitung sogar einem Gläubiger übertragen werden können.

Ganz ohne Vorbild ist der Ansatz der EU-Kommission nicht. So stellte das sog. „Receivership“-Verfahren bis zur Reform im Jahre 1986 sogar das Grundprinzip der Abwicklung in einem englischen Insolvenzverfahren dar. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde es dem Gläubiger einer sog. „floating charge“, einer allumfassenden Sicherheit über die Vermögenswerte eines Unternehmens, ermöglicht, diese Sicherheit – allerdings nur durch einen von ihm zu bestellenden Insolvency Practitioner und unter Beachtung der Reche anderer Gläubiger – verwerten zu lassen. Missbräuche veranlassten den Gesetzgeber allerdings dazu, bereits mit der Reform von 1986 dieses Rechtsinstitut massiv einzuschränken und ab den 2000er Jahren weitestgehend abzuschaffen (s. dazu vertiefend hier). Auch belegen England („Official Receiver„, s. näher hier) oder der Schweiz („Konkursamt„, s. näher hier), dass man die Insolvenzverwaltung auch mit staatlichen Organisationen betreiben kann.

Bei der Frage eines verwalterlosen Verfahrens gehen die Wogen gerade in Deutschland erwartungsgemäß hoch, dürften doch nach Schätzung der angehörten Verbände über 85% der deutschen Unternehmensinsolvenzen von dieser Regelung betroffen sein. Zum einem dient das Insolvenzverfahren aber der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung, s. § 1 InsO, nicht der Besitzstandswahrung einer Branche (s. zur Diskussion nur hier). Zum anderen zeigt Madaus in einem lesenswerten Post (hier) auf, dass selbst bei Umsetzung der Harmonisierung im jetzigen Stand das verwalterlose Verfahren in Deutschland nicht die Regel werden dürfte (hier).

Vorinsolvenzlich ausgehandelte Unternehmensverkäufe („Pre-Pack-Verfahren“) – Teil IV

Das deutsche Recht kennt bereits seit den späten 70er Jahren des vorherigen Jahrhunderts die sog. „übertragende Sanierung“ (s. hier). Darunter versteht man die Übertragung der Vermögenswerte / Assets eines Unternehmens (die Aktivseite der Bilanz) an einen neuen Rechtsträger, der einen Kaufpreis dafür zahlt, während die Verbindlichkeiten (Passivseite) „stehen bleibt“. Mit dem Erlös werden dann die Gläubiger befriedigt. Auf Grund des Stigmas der Insolvenz versucht man generell, die Phase zwischen Insolvenz und Veräußerung möglichst kurz zu halten (ein Verkauf VOR der Insolvenz ist risikobehaftet, schon auf Grund bestehender Anfechtungsrechte). Sowohl in England als auch in den USA haben sich Verfahren eingebürgert, nach denen der Verkauf deswegen bereits vor der Einleitung des Verfahrens weitestgehend abgestimmt und dann mit Eröffnung des Verfahrens vollzogen wird (z.B. bei der Insolvenz von General Motors, hier, oder Chrysler, hier, in den 2000ern). In England wurden nach einer Serie von Missbrauchsfällen (s. hier) die Regeln für die Durchführung sog. „Pre-Packs“ strikter gefasst (s. näher hier). In Deutschland werden derartige Deals traditionell im – mit im Regelfall drei Monaten wesentlich länger dauernden als vergleichbare ausländische – Eröffnungsverfahren vorbereitet. Von daher dürfte diesbezüglich in Deutschland wenig Anpassungsbedarf bestehen.

Allerdings ist nach deutschem Recht die Übertragung von Verträgen auf den Erwerber ohne Zustimmung der Gegenseite nicht zulässig. Das soll sich nach Art. 27 des Entwurfs nun ändern – die Übertragung von Verträgen, wie auch die ausdrückliche Beendigung von Verträgen im Falle der übertragenden Sanierung sollen erlaubt werden. Ob und wie sich eine solche Zwangsübertragung mit der grundgesetzlich gesicherten Vertragsfreiheit verträgt, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall dürfte im Fall eines Scheiterns des neuen Unternehmens Haftungsansprüche der zwangsweise übertragenen Geschäftspartner gegen die an der Übertragung Beteiligten im Raum stehen.

Insolvenzanfechtungsrecht – Teil II

Bei einem oberflächlichen Blick auf die Überschriften des Teil II kann man durchaus den Eindruck gewinnen, dass sich die Kommission im Recht der englischen Insolvenzanfechtung bedient hat – die Überschriften „Preferences“ (Art. 6), „Legal acts against no or a manifestly inadequate consideration“ (Art. 7), wie auch „Legal acts intentionally detrimental to creditors“ (Art. 8), erinnern doch sehr an die Vorschriften der englischen Insolvency Act mit ihrer „Preference“ (sec. 239 IA 1986) oder „Transactions at an undervalue“ (sec. 238 IA 1986). Betrachtet man allerdings in den Inhalt der Regelungen, so scheint die EU-Kommission eher das deutsche Recht der Insolvenzanfechtung übernommen – und in Teilen hinter die Reform von 2017 zurückgeschraubt – zu haben (tatsächlich scheint die vorgeschlagene Reform des Anfechtungsrechts auf ein Buch von Bork/Veder, „Harmonisation of Transactions Avoidance Laws“ (hier), zurückgehen). Denn im Gegensatz zum englischen Recht soll das Anfechtungsrecht nach der europäischen Harmonisierung nunmehr auch die Anfechtung kongruenter und inkongruenter Deckungen umfassen. Für eine „Preference“ ist darüber hinaus noch nicht einmal ein wie auch immer gearteter Vorsatz erforderlich, es reicht vielmehr nach Art. 6 Abs. 2 b) aus, dass der Gläubiger die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners zum Zeitpunkt der in Frage stehenden Rechtshandlung kannte oder hätte kennen müssen. Gerade letzteres Tatbestandsmerkmal der fahrlässigen Unkenntnis geht über die aktuellen Fassung der Tatbestände der Kongruenzanfechtung im deutschen Recht nach den §§ 130 ff. InsO hinaus. Damit droht die Reform der Insolvenzanfechtung von 2017 (s. dazu hier, hier und hier), die gerade erst zaghaft vom BGH umgesetzt wird (hier), wieder zurückgedreht zu werden.

Zeitplan

Die Kommission hat sich zu einem konkreten Zeitplan bislang nicht geäußert, sie wird aber wahrscheinlich versuchen, die Richtlinie vor dem Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2024 zu verabschieden. Für die Umsetzung hätte Deutschland dann bis voraussichtlich 2026 Zeit, vgl. Art. 71 („2 Jahre nach Inkrafttreten“).

Erstes Fazit

Es ist ja immer so ein Ding, über ungelegte Eier zu spekulieren, aber die kurze Darstellung einiger Aspekte des Richtlinienentwurfs zeigt, dass eine Umsetzung der Richtlinie schon einige bisherige Gewissheiten des deutschen Insolvenzrechts in Frage stellen würde.

Zunächst teile ich die Ansicht von Herrn Weitzmann, dass der EU die Kompetenz zu Regelungen in diesem Bereich fehlt. Gerade die von der Kommission gewählten Schwerpunkte deuten zudem eher ein „Streamlining“ in Richtung Banken, denn in Richtung Gläubiger an. Dies zeigen insbesondere die Regelungen zum „Pre-Pack“, die direkt aus der Feder von sog. „Distressed Investoren“ stammen könnten. Meine Erfahrung aus internationalen Fällen ist, dass das Management bei derartigen gesetzlichen Rahmenbedingungen regelmäßig mit dem Argument des Shift der „Fiduciary Duties“, also dem Wechsel von der Ausrichtung auf das vorrangigen Interesse am Wohlergehen der Gesellschaft hin zu einem Vorrang der Gläubigerinteressen gedrängt wird, Unternehmen unter Ausschaltung der Gesellschafter an „interessierte“ Gläubiger zu veräußern.

Die deutschen Verwalter sehen natürlich bei der Konzeption eines „verwalterlosen“ Verfahren ihre Felle schwimmen – auch jenseits der Argumentation von Herrn Madaus. Die Diskussion über verwalterlose Verfahren dürfte allerdings sowieso kommen – denn fast 25 Jahre nach Einführung der Insolvenzordnung mag sich die Praxis der Insolvenz bei Großunternehmen verbessert haben, die Abwicklung von Insolvenzen der benannten Mikrounternehmen und die Abwicklung der Insolvenzen von Privatpersonen zeitigt auf jeden Fall nicht derartige Quoten, dass sich eine Verbesserung gegenüber der Situation gegenüber der Konkursordnung deutlich ergeben würde.

Ob aber – bei aller Kritik – gerade die Betrauung staatlicher Institutionen mit der Insolvenzabwicklung in Deutschland Sinn macht, wage ich zu bezweifeln. Angesichts eines jetzt schon überbordenden Staatsapparates (s. zur immer größer werdenden Beamtenschar hier) stellt sich die Frage, ob staatliche Institutionen letztendlich in der Lage sind, die bislang von Insolvenzverwaltern (mitsamt des wirtschaftlichen Risikos!) wahrgenommenen Aufgaben tatsächlich besser – also effektiver (höhere Quote, anybody?) und effizienter (kostensparender) – auszuführen. Mal davon abgesehen, überhaupt die entsprechenden Mitarbeiter staatlicherseits zu rekrutieren und auszubilden. Schon bei den von der EU-Kommission ins Auge gefassten Mikrounternehmen habe ich da meine Zweifel. Bei der Entschuldung natürlicher Personen – die scheinbar für Verwalter ein Verlustgeschäft ist – könnte das anders sein. Für diesen Schuldnertyp könnte man tatsächlich über die Schaffung eines „Insolvenzamtes“ nachdenken (das natürlich durch Gerichte kontrolliert würde).

Schließlich dürfte die erneute Verschärfung des Rechts der Insolvenzanfechtung jenseits der akademischen Sphäre und der Insolvenzverwalter-Szene wenig Freunde finden. Vor juristokratisch geprägten Überlegungen, wen man alles noch für was in Anspruch nehmen könnte, sollte man vielleicht erst einmal statistisch erheben, wie sich eigentlich Anfechtungen de facto auf die Höhe der Insolvenzquote auswirken (in Deutschland lag die Deckungsquote für bis 2018 beendete Verfahren bei lediglich 3,8%, hier; neuere Zahlen sind zumindest von Destatis nicht verfügbar).

Insgesamt stellt sich angesichts der Initiative der Kommission jenseits aller verfassungsrechtlichen Bedenken die Frage, wieso eine Kapitalmarktunion – deren Sinnhaftigkeit an sich man auch hinterfragen könnte (s. zur Kritik erneut hier) – überhaupt eine Vereinheitlichung des Insolvenzrechts benötigt. Selbst wenn man diese Fragen hintenanstellt, erscheinen die hinter dem Vorschlag stehenden konzeptionellen Ideen nicht konsistent: Während die Ideen zum Pre-Pack aus der Feder von institutionellen NPL-Investoren stammen könnten, entspringen die Regeln zur Insolvenzanfechtung – die sogar den im europäischen Vergleich sehr strengen deutschen Standard noch einmal verschärfen würden – offensichtlich praxisfernen Überlegungen von Akademikern. Gerade die Verschärfung des Insolvenzrechts könnte – wenn man sich die deutsche Szene mit ihren zahllosen Anfechtungen ansieht – in der Praxis eher zur Verunsicherung von NPL-Investoren führen. Jenseits dieser Kritik könnte einer der „unintended benefits“ der Initiative die Diskussion über eine effektive und effiziente Verfahrensabwicklung jenseits eines verwalterzentrierten Verfahren sein. Angesichts eines Zeitfensters von vielleicht weniger als drei Jahren bis zur Umsetzung der RL sehe ich allerdings eher das Risiko von hastig implementierten Strukturen, die bisherige Ineffizienzen noch verstärken, denn beheben.

Proposal for a DIRECTIVE OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL harmonising certain aspects of insolvency law (COM/2022/702 final)

EU-Parliament: Briefing on Harmonising certain aspects of insolvency law in the EU

TMA (D) Stellungnahme zum Kommissionsvorschlag (s. dazu auch Veröffentlichungen im INDat-Report, hier).

VID Stellungnahme zum Kommissionsvorschlag

NIVD Stellungnahme zum Kommissionsvorschlag

DAV Stellungnahme zum Kommissionsvorschlag

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