Angesichts des von Destatis (+19%, Anträge für Regelinsolvenzen um +23,8%) und IWH (+44%) gemeldeten dritten Anstiegs der Unternehmensinsolvenzen in Folge (jeweils im Vorjahresvergleich, s. hier und hier für die Vormonate) dreut mir, dass nicht nur der VID mit seiner Aussage aus dem Vormonat, dass der „Anstieg der Unternehmensinsolvenzen im Juni: Voraussichtlich nur ein Quartalseffekt“ sei (hier), vielleicht genau so daneben liegt, wie der IWH, der noch im Juni „für die kommenden beiden Monate von stabilen Insolvenzzahlen“ ausging (hier) und ich selber, der ich auch von einer „Atempause“ zumindest über den Sommer ausging (hier).
So langsam beschleicht mich nämlich das Gefühl, dass wir Insolvenz-„Experten“ derzeit in eine ähnliche Falle tappen, wie seinerzeit die EZB-Banker, die die Inflations“welle“ auch erst sahen, als sie schon quasi von ihr umgerissen wurden. Was, wenn sich die Steigerung der Insolvenzzahlen ab jetzt so ähnlich fortsetzt, wie seinerzeit die Steigerung der Inflation? Und dafür spricht derzeit vieles, wie die nachfolgenden Betrachtungen zeigen:
Aktuelle Fälle
Wie immer erlauben die Übersichten bei Finance (hier) und Juve (hier) einen guten Überblick über das aktuelle Fallgeschehen. Als prominente Einzelfälle will ich zunächst den E-Bike-Hersteller Vanmoof herausgreifen (hier), bei dem nach Recherchen des Manager Magazins auch vorher schon nicht alles rund lief (hier und hier, leider hinter Paywall). Auch wenn die Fahrradbranche derzeit an (pleiteträchtigen) Überkapazitäten leidet, scheint Vanmoof eher ein Einzelfall zu sein, zumindest bislang. Eine andere prominente Pleite betrifft den Höhle des Löwen-Star The Social Chain (hier). Wie schon im letzten Monat skizziert (erneut hier) bekommt die Start-up-Szene allerdings auch die neue „Hoch-Zins“-Politik zu spüren, dementsprechend sind Pleiten in dem Bereich nicht verwunderlich. Ebenfalls nicht verwunderlich sind Pleiten im Bereich des Textil-Einzelhandels. So hat es nach dem Versender Klingel (hier) nun auch Madeleine erwischt (hier). Gleichwohl konstatiert Allianz Trade eine überraschende Resilienz des europäischen Einzelhandels (hier) und zeigt das aktuelle „Kaufparadoxon auf“: Während die Ausgaben für Lebensmittel, etc. sanken, stiegen die Ausgaben für Autos, Möbel, Kleidung und Kultur. Also vielleicht doch Hoffnung im Einzelhandel? Time will tell. Trotz einiger Lichtblicke – Leoni kommt vielleicht doch zur Ruhe (hier) und der Automobilzulieferer Dr. Schneider Gruppe konnte immerhin aus der Insolvenz verkauft werden (hier) – wird die deutsche Automotive-Branche insgesamt von einem giftigen Cocktail bedroht (hier), was durch einen Produktionseinbruch von 20% im 1. Halbjahr 2023 eindrücklich belegt wird (hier). Wir können also davon ausgehen, in nächster Zeit von weiteren Pleiten in diesem Bereich zu lesen. Die monatliche Krankenhauspleite wird Ihnen diesmal präsentiert vom DRK, bei dem fünf Kliniken in Rheinland-Pfalz Insolvenz anmelden mussten (hier). Angesichts der steigenden Zinsen „drängt“ nun schließlich der Immobiliensektor auf den „Pleitemarkt“: So haben mit Project (hier), Euroboden (hier), Revitalis (hier) und Development Partner (hier) alleine innerhalb der letzten Woche vier Immobilienentwickler Insolvenz angemeldet (vertiefend hier, hier und hier).
Blick ins Ausland
Die Zahl der Insolvenzen ging in England und Wales – je nach Verfahrensart – im Juni um bis zu 77% im Vorjahresvergleich nach oben (hier und hier). Die Chance, dass die britische Wirtschaft in eine Rezession fällt, wird zwischenzeitlich auf 60% geschätzt (hier) – was zu noch mehr Insolvenzen führen dürfte. Allerdings fiel nach dieser Erhebung die Inflationsrate unerwartet auf 6,8% (hier). Vielleicht eine Entschärfung der Situation. Derweil stieg die Zahl der Unternehmenspleiten in der Schweiz in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 um 16%, wobei es wohl häufig Zombie-Unternehmen und Startups erwischte (hier). Während in Österreich die Insolvenzwelle (zumindest nach der Grafik, hier) abzuebben scheint, ereichten die insolvenzbedingten Schließungen von Einzelhandelsfilialen einen neuen Höchststand (hier). „Business Bankruptcy Filings“ (die auch nicht inkorporierte Unternehmungen einschließen) stiegen in den USA im Juni 2023 um über 23% im Vorjahresvergleich (hier). Die sich andeutende Insolvenz von WeWork (hier) dürfte dabei symptomatisch für die Krise bei Geschäftsimmobilien in den USA stehen. Dass auch der chinesische Immobilienriese Evergrande nun einen Insolvenzantrag in den USA stellt (hier), lässt zudem tief blicken, was die Resilienz der chinesischen (Immobilen-)Wirtschaft und den Willen (oder die Fähigkeit) des chinesischen Staates zum Schutz wichtiger Unternehmen angeht.
Den gesonderten Abschnitt „Prognosen anderer“ kann ich mir heute sparen – setze ich mich doch damit im ganzen Bericht auseinander.
Fazit: Die Zahl der Pleiten steigt, Krankenhäuser gehen pleite, der Automotive-Bereich kommt nicht zur Ruhe und der Einzelhandel muss erst mal zeigen, dass es jenseits des „Kaufparadoxon“ nachhaltig positive Entwicklungen gibt. Same old, same old also?
Dem VID ist zwar zuzustimmen, wenn er aktuell ausführt, dass „trotz deutlichem Anstieg [die] Insolvenzzahlen immer noch auf niedrigem Niveau“ seien (hier). Angesichts des (schon insolvenz-)statistisch ungewöhnlichen dreimaligen Anstiegs der Zahlen in Folge (s. Erläuterungen hier) und der „Steilheit“ des Anstiegs selbst sollte man sich allerdings die Frage stellen, was wäre, wenn die Kurve es nicht dabei belässt, sich auf das (tiefe) Vor-Corona-Niveau einzupendeln, sondern sich entgegen der Auguren erdreistet, steil weiter zu steigen.
Und dafür spricht einiges, so z.B. die bereits oben angesprochenen „Problem-Cluster“ der deutschen Wirtschaft (Automotive, Einzelhandel und Immobilien) oder beispielsweise die sich stark verschlechternde Zahlungsmoral bei Unternehmen (hier und hier). Auch die steigende Zahl der Gewerbeaufgaben (hier, die zweifellos auch andere Unternehmen Kundschaft kostet) dürfte sich im Laufe der Zeit auch in der Insolvenzstatistik niederschlagen. Ferner sollte man berücksichtigen, dass so ziemlich alle Prognostiker mittlerweile für Deutschland eine Rezession in 2023 vorhersagen (s. nur IWF, hier). In- wie ausländische Presse führen diese Rezession nur in Deutschland (selbst Russland soll ein geringes Wachstum ausweisen!) auf strukturelle Defizite zurück (s. nur hier). Und das Problem ist, dass die Beseitigung struktureller Defizite nicht von heute auf Morgen möglich ist. Und der mittlerweile „normale“ Ausweg für die Politik, über Schuldenaufnahme die Wirtschaft anzukurbeln, dürfte angesichts einer Rekordverschuldung, die auf seit der Finanzkrise Ende der 2000er Jahre nicht mehr gesehene Zinssätze trifft, ebenfalls größtenteils zugestellt sein.
Vor diesem Hintergrund können wir zwar hoffen, dass sich die Prognosen des VID und des HIW, wonach die „hohen Zahlen in den Monaten Juni und Juli das vorläufige Ende des Anstiegs bei den Insolvenzen“ markieren sollen (erneut hier), nicht schon im kommenden Monat als Makulatur erweisen. Schon daran habe ich allerdings meine Zweifel.