„In der Krise des Unternehmens
schlägt die Stunde des Aufsichtsrates“
v. Schenck
Zwar ist sich die Fachliteratur einig über den Pflichtenkatalog der Aufsichtsorgane gerade in einer Unternehmenskrise. Dagegen sind obergerichtliche Urteile in diesem Bereich nach wie vor spärlich gesät und zumeist älterer Natur. Angesichts der Skandale der letzten Zeit, wie z.B. Wirecard oder RBB (s. dazu schon hier), die sich derzeit in der juristischen Aufarbeitung befinden, dürfte es allerdings nur eine Frage der Zeit sein, bis sich die Gerichte mit der Verantwortlichkeit von Aufsichtsorganen erneut und vertieft befassen werden. Der nachfolgende Beitrag skizziert deswegen den aktuellen Stand in Theorie und Praxis und leitet aus akutellen Fällen einige Praxishinweise ab.
Grundlagen
Kernaufgabe des Aufsichtsrates einer Aktiengesellschaft ist die Überwachung der „Geschäftsführung“ des Vorstandes, vgl. § 111 AktG. Die Überwachungsaufgabe ist jedenfalls stets im Interesse der Gesellschaft und unter Berücksichtigung des Gebots der effizienten Überwachung zu erfüllen. Dies bedeutet, dass insbesondere die Berichts- und Informationspflichten, die das Gesetz dem Vorstand gegenüber dem Aufsichtsrat auferlegt, gleichzeitig „Holschulden“ des Aufsichtsrats darstellen, weshalb sich dieser nicht durch den Verweis auf eine nachlässige Informationspolitik des Vorstands exkulpieren kann. Zwar verlangt das Aktiengesetz als Mindestmaß lediglich zwei Aufsichtsratssitzungen im Kalenderhalbjahr, bei nicht börsennotierten Gesellschaften lässt es sogar den Schluss zu, lediglich eine Sitzung im Kalenderhalbjahr abzuhalten. In Krisenfällen muss der Aufsichtsrat seine Tätigkeit intensivieren, sich also im Zweifel auch in deutlich kürzeren Intervallen abstimmen.
Dabei gilt eine abgestuften Überwachungspflicht, da sich die Überwachung in Art, Umfang und in Intensität an die jeweils aktuelle Lage der Gesellschaft anzupassen hat. Als Richtschnur kann dabei die Einordnung in drei Stufen der Überwachungsintensität dienen. Bei dieser Abstufung kann sich der Aufsichtsrat bei normalem Gang der Geschäfte mit einer begleitenden Überwachung begnügen, hier braucht er nur die im Gesetz für die laufende Überwachung vorgesehenen Kompetenzen wahrzunehmen. Bei ersten Anzeichen von Verschlechterungen der Lage der Gesellschaft soll der Aufsichtsrat zu einer unterstützenden Überwachung übergehen. Diese beinhaltet etwa die Anforderung zusätzlicher Berichte sowie Sondersitzungen, die sich speziell mit der Lage und Entwicklung der Problembereiche befassen. Erst nach erkennbarem Eintritt einer Krise greift auf dritter Stufe die sog. gestaltende Überwachung, die vor allem aus Überlegungen über die Neugestaltungen der Geschäftsführungskompetenzen sowie über die Eignung des Vorstands bestehen und ggf. in die Entscheidung über dessen Auswechslung münden soll.
Pflichtenkonkretisierung
Die Gerichte haben in den 2000er Jahren in einigen bekannten Entscheidungen dies Pflichten weiter konkretisiert: So entschied das LG München in Sachen „Kloster Andechs“: „In der Situation einer Krise oder der Möglichkeit der Krise ist der Vorsitzende des Aufsichtsrats verpflichtet, eine Sitzung des Aufsichtsrats einzuberufen. Unterlässt er dies und wären auf der Sitzung Maßnahmen zur Behebung der Krise beschlossen worden, so ist er zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Dies gilt vor allem dann, wenn der Vorstand und/oder ein anderes Mitglied des Aufsichtsrats die Einberufung einer Sitzung des Aufsichtsrats verlangt.“
Der BGH hat in einem Urteil aus dem Jahre 2009 explizit zu den Pflichten des Aufsichtsrats bei Insolvenzreife – also gegen Ende oder nach der 3. Stufe – Stellung genommen und ausgeführt, dass sich dieser ein genaues Bild von der wirtschaftlichen Situation der Gesellschaft verschaffen und insbesondere in einer Krisensituation alle ihm nach dem Aktiengesetz zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausschöpfen muss. Stellt der Aufsichtsrat dabei fest, dass die Gesellschaft insolvenzreif ist, hat er darauf hinzuwirken, dass der Vorstand rechtzeitig Insolvenzantrag stellt und keine Zahlungen leistet, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters nicht vereinbar sind. Erforderlichenfalls muss er ein ihm unzuverlässig erscheinendes Vorstandsmitglied abberufen. Der BGH bestätigte seine Linie mit einer Entscheidung im Jahre 2010, in der er ausführt dass, wenn „der Aufsichtsrat [erkennt] oder er erkennen [muss], dass die Gesellschaft insolvenzreif ist, bestehen für ihn Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Vorstand entgegen dem Verbot des § 92 Abs. 2 Satz 1 AktG Zahlungen leisten wird, hat der Aufsichtsrat darauf hinzuwirken, dass der Vorstand die verbotswidrigen Zahlungen unterlässt.“
Schadenersatz
Verletzt der Aufsichtsrat seine Überwachungspflicht, haftet er der Gesellschaft bzw. dem Insolvenzverwalter gegenüber – neben dem Vorstand – auf Schadensersatz. Nach Absatz drei des durch das MoMiG bereits 2008 eingeführten § 15a InsO sind die einzelnen Mitglieder des Aufsichtsrats einer AG oder Genossenschaft bei „Führungslosigkeit einer Gesellschaft“ sogar selber zur Stellung eines ggf. erforderlichen Insolvenzantrages verpflichtet und haften nach § 15b InsO ggf. persönlich für Zahlungen, die nach Insolvenzreife erfolgen. Diese Haftungsregeln gelten jedoch nur bedingt für einen fakultativen Aufsichts-(oder Bei-)rat, wie der BGH in Sachen „Doberlug“ entschied: „Die Mitglieder des fakultativen Aufsichtsrats einer GmbH sind bei Verletzung ihrer Überwachungspflicht hinsichtlich der Beachtung des Zahlungsverbots aus § 64 Satz 1 GmbHG nur dann der GmbH gegenüber nach § 93 Abs. 2, § 116 AktG, § 52 GmbHG ersatzpflichtig, wenn die Gesellschaft durch die regelwidrigen Zahlungen in ihrem Vermögen i.S. der §§ 249 ff. BGB geschädigt worden ist. Die Aufsichtsratsmitglieder haften dagegen nicht, wenn die Zahlung – wie im Regelfall – nur zu einer Verminderung der Insolvenzmasse und damit zu einem Schaden nur der Insolvenzgläubiger geführt hat.„
Dabei ist jedes einzelne Mitglied selbst zur sorgfältigen und am Unternehmensinteresse ausgerichteten Wahrnehmung der Überwachungsaufgabe verpflichtet. Im Falle der Verletzung ihrer Pflichten haften dementsprechend die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder der Gesellschaft auf Schadensersatz. In einem späteren Haftungsrechtsstreit muss die Gesellschaft bzw. der Insolvenzverwalter über deren Vermögen nur darlegen, dass der Aufsichtsrat möglicherweise gegen die vorgenannten Pflichten verstoßen und dies zu einem Schaden geführt hat. Der Aufsichtsrat muss dann den Gegenbeweis antreten, dass er seine Pflichten ordnungsgemäß erfüllt oder an einem Unterlassen kein Verschulden gehabt hat. In diesem Zusammenhang entschied der BGH, dass ein Aufsichtsratsmitglied, das nicht über die erforderliche Sachkunde verfügt, seinen Pflichten nur genügen könne, „wenn er sich unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lässt und den erteilten Rechtsrat einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle unterzieht.“ Demgegenüber unterliegt ein „Aufsichtsratsmitglied, das über beruflich erworbene Spezialkenntnisse verfügt, soweit sein Spezialgebiet betroffen ist, einem erhöhten Sorgfaltsmaßstab.„
Fazit: Für den Aufsichtsrat bedeuten diese Ausführungen vor allem, dass er sein Hauptaugenmerk auf die Implementierung eines Früherkennungssystems im Sinne des § 91 Abs. 2 AktG durch den Vorstand zu legen hat, damit bereits die Ursachen einer Krise erkannt und bekämpft werden können, um deren Eintritt schlussendlich zu vermeiden. Kann der Eintritt der Krise nicht verhindert werden, muss der Aufsichtsrat darauf hinwirken, dass der Vorstand durch die Aufstellung einer Fortbestehensprognose / Überschuldungsbilanz sowie eines Liquiditätsplans den Status der Gesellschaft stetig überwacht und ggf. Sanierungskonzepte erarbeitet und umgesetzt werden. Scheitern die Restrukturierungs- und Sanierungsbemühungen, so hat der Aufsichtsrat auf eine unverzügliche Insolvenzantragstellung des Vorstandes hinzuwirken.
Schaut man auf den eingangs genannten Fall Wirecard, so bewahrheitet sich angesichts des damaligen Briefes, mit dem eine Aufsichtsrätin bereits im Jahre 2017 das Handtuch im Skandalkonzern warf (hier) erneut das Bomnot, dass „bei einem guten Vorstand der Aufsichtsrat machtlos [ist], bei einem schlechten Vorstand dagegen ratlos.“ Im Untersuchungsausschuss des Bundestages erläuterte sie, dass der Aufsichtsrat von Wirecard es tatsächlich versäumt habe, den Vorstand zu kontrollieren (hier). Dementsprechend wurden natürlich auch Forderungen laut, den Aufsichtsrat in die Haftung zu nehmen (hier). Misst man die Äußerungen der ehemaligen Aufsichtsrätin am oben skizzierten Pflichtenkatalog, dann dürfte eine Haftung der Aufsichtsräte tatsächlich nicht von der Hand zu weisen sein. Angesichts der im Raum stehenden Beträge dürften diese Prozesse auch das höchste deutsche Zivilgericht beschäftigen. Der BGH, der in seinen vorhergehenden Urteilen schon die Pflichtenkreise und Haftungsmaßstäbe stetig angezogen hat, dürfte im Zweifel bei den entsprechenden Entscheidungen weiter „nachschärfen“. Aufsichtsräten ist vor dementsprechend anzuraten, sich bereits jetzt intensiv mit ihrem Pflichtenkreis auseinanderzusetzen, die Berichtswege im Unternehmen zu prüfen (s. zu den Lehren aus dem bereits benannten RBB-Fall erneut hier), entsprechende Berichte zeitnah – und ggf. unter Einschaltung entsprechend spezialisierter Berater – zu würdigen und den Vorstand kritisch zu begleiten. Denn sonst schlägt in der Krise nicht die Stunde des Aufsichtsrates sondern es gilt das alte Bonmot von Hermann Josef Abs: „Die Hundehütte ist für den Hund, der Aufsichtsrat ist für die Katz“.
LG München, Urt. v. 31.05.2007 – 5 HK O 11977/06 – „Kloster Andechs“
BGH, Urt. v. 16.03.2009 – II ZR 280/07
BGH, Urt. v. 20.09.2010 – II ZR 78/09 – „Doberlug“
BGH, Urt. v. 20.09.2011 – II ZR 234/09