In einer vielbeachteten (und -besprochenen) Entscheidung vom 28. Juni 2022 hat der – für Gesellschaftsrecht zuständige – II. Zivilsenat des BGH entschieden, dass die Zahlungsunfähigkeit iSd. § 17 Absatz II 1 InsO nicht (nur) durch Aufstellung einer Liquiditätsbilanz, sondern auch mit anderen Mitteln dargelegt werden kann.
Auch wenn einige Kommentatoren aus diesem Urteil eine Änderung der bisherigen BGH-Linie ableiten wollen (z.B. Comtesse, ZInsO 2022, 2329) und der VID sich wegen seiner in zeitlichem Zusammenhang mit dem Urteil veröffentlichten „Empfehlungen zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit“ (hier) scheinbar als spiritus rector dieser Entscheidung sieht (hier), reiht sich diese Entscheidung doch in eine Reihe anderer Entscheidungen des BGH zu diesem Themenkomplex ein.
Zunächst rekurriert der II. Zivilsenat in der Entscheidung vom Juni an entscheidender Stelle (Rz. 14) selber auf ein kurz zuvor ergangenes Urteil des IX. Zivilsenats aus dem April 2022: „In der Rechtsprechung des BGH ist anerkannt, dass die Zahlungsunfähigkeit auch auf andere Weise dargelegt werden kann als durch eine solche Zeitraumbetrachtung. So wird es für zulässig erachtet, die Zahlungsunfähigkeit durch einen Liquiditätsstatus auf den Stichtag in Verbindung mit einem Finanzplan für die auf den Stichtag folgenden drei Wochen, in dem tagesgenau Einzahlungen und Auszahlungen gegenübergestellt werden, darzutun (vgl. BGH, Urteil vom 28. April 2022 – IX ZR 48/21, WM 2022, 1287 Rn. 18).“ Um dann selber zu ergänzen: „Es spricht auch nichts dagegen, zur Darlegung der Zahlungsunfähigkeit mehrere tagesgenaue Liquiditätsstatus in aussagekräftiger Anzahl aufzustellen, in denen ausgehend von dem am Stichtag eine erhebliche Unterdeckung ausweisenden Status an keinem der im Prognosezeitraum liegenden bilanzierten Tag die Liquiditätslücke in relevanter Weise geschlossen werden kann„. (Hervorhebung durch den Autor, s. ebenso in BGH, Urt. v. 28.06.2022 – II ZR 112/22, Rz. 14)
Dabei ist der BGH in dem vorgenannten Urteil aus dem April 2022 vermeintlich sogar noch viel weiter gegangen, als er konstatierte: „Die Zahlungseinstellung kann aus einem einzigen Indiz gefolgert werden, wenn dieses Indiz eine hinreichende Aussagekraft hat. Fehlt es an einem hinreichend aussagekräftigen einzelnen Indiz, kommt der Schluss auf eine Zahlungseinstellung nur in Betracht, wenn die Gesamtheit der Indizien die volle richterliche Überzeugung einer Zahlungseinstellung rechtfertigt.“ (Leitsatz, sowie Rz. 28; Hervorhebungen durch den Autor) Sprich, nach Ansicht des IX. Zivilsenats wird zum Nachweis der Zahlungseinstellung noch nicht einmal die dreimalige Aufstellung eines Liquiditätsstatus benötigt, ein einziges Indiz kann bereits ausreichen, die Zahlungseinstellung zu belegen. So bildet z.B. die mehr als halbjährige Nichtbegleichung von Sozialversicherungsbeiträgen nach ständiger Rechtsprechung ein erhebliches Beweisanzeichen für eine Zahlungseinstellung (Rz. 31 mit Verweis auf ein Urteil aus dem Jahre 2013).
Selbst wenn die Zivilsenate nicht ausdrücklich darauf Bezug nehmen, so dürfte sich deren Rechtsprechung wiederum an den Entscheidungen der Strafsenate des BGH zum selben Themenkomplex zumindest orientieren. Die Strafsenate ermöglichen – zuletzt mit Beschluss aus dem Jahre 2019 -, die Zahlungsunfähigkeit nach § 17 InsO auch an Hand sog. „wirtschaftskriminalistischer Beweisanzeichen“ zu ermitteln (Rz. 17). Der zuständige Strafsenat sieht die verspätete Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen als mögliches (in diesem Fall aber nicht erfülltes) Indiz an.
Fazit: Fraglos hat der BGH in Zivilsachen durch die Einführung der Möglichkeit, die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners durch einzelne Liquiditätsstati nachzuweisen, die Möglichkeiten des Verwalters für den Nachweis der Zahlungsunfähigkeit erweitert. Die Frage ist jedoch, ob angesichts der von den (insoweit einen höheren Grad des Nachweises verlangenden) Strafsenaten und vom IX. Zivilsenat eingeräumten vereinfachten Möglichkeiten, die Zahlungseinstellung an Hand einzelner Indizien nachzuweisen, in den meisten Fällen – soweit es um die Haftung und Strafbarkeit geht – überhaupt noch eine Nachweisführung über Liquiditätsstati erforderlich ist. Demgegenüber ist für den Fall einer Antragstellung im Rahmen z.B. eines StaRUG- oder Schutzschirmverfahrens dem VID zuzustimmen, dass der Nachweis der drohenden Zahlungsunfähigkeit tatsächlich möglicherweise mit Einzeltstati einfacher zu führen ist. Wie die Entscheidung des AG Köln vom 3. März 2021 (Az: 83 RES 1/21, hier, besprochen hier) zeigt, kann von diesem Nachweis nämlich durchaus der Zugang zu einem Sanierungsverfahren abhängen.
BGH, Urt. v. 28.04.2022 – IX ZR 48/21
BGH, Urt. v. 23.06.2022 – IX ZR 75/21
BGH, Urt. v. 28.06.2022 – II ZR 112/21
BGH, Urt. v. 18.07.2013 – IX ZR 143/12
BGH, Beschl. v. 11.7.2019 – 1 StR 456/18