Mit einem im Dezember 2017 ergangenen Urteil hat der BGH der sog. „Bugwellentheorie“ bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit eine Absage erteilt und damit einerseits für mehr Rechtssicherheit gesorgt, andererseits aber auch die Haftungsgefahren für Geschäftsführer erhöht.
Diese sog. „Bugwellentheorie“ war im Nachgang zu einem Grundsatzurteil des BGH aus dem Jahre 2005 entstanden, in dem das Gericht entschieden hatte, dass von einer Zahlungsunfähigkeit regelmäßig dann auszugehen sei, wenn die Liquiditätslücke beim Schuldner 10% oder mehr betrage, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig geschlossen werde und den Gläubigern ein Zuwarten nach den Umständen des Einzelfalls zuzumuten sei.
Ein etwas mißverständlicher Satz in der damaligen Urteilsbegründung war – gerade zur Verteidigung in Haftungsprozessen – häufig so ausgelegt worden, dass bei der Ermittlung der Liquiditätslücke zwar die im maßgeblichen Zeitpunkt verfügbaren und innerhalb von drei Wochen flüssig zu machenden Mittel (also Aktiva I und Aktiva II) anzusetzen seien, dagegen nur die am Prüfungsstichtag fälligen Verbindlichkeiten (Passiva I) zu berücksichtigen seien, nicht jedoch die während der Drei-Wochen-Frist fällig werdenden Verbindlichkeiten (Passiva II). Folgte man dieser Theorie, so wäre es dem Schuldner möglich, quasi eine „Bugwelle“ fälliger Verbindlichkeiten vor sich herzuschieben, solang die erwarteten Liquiditätszuflüsse der nächsten drei Wochen die Unterdeckung zumindest (wieder) auf weniger als 10% der fälligen Verbindlichkeiten reduzieren würden.
Dieser – von der herrschenen Meinung in der Literatur allerdings nie geteilten Theorie – ist der BGH mit der Enscheidung aus dem Dezember 2017 nun entgegengetreten. Zu Recht argumentiert er damit, dass der Schuldner in solchen Fällen möglicherweise am Ende der (jeweiligen) Drei-Wochen-Frist sogar noch mehr fällige Verbindlichkeiten vor sich her schieben könnte, als zu Beginn. Damit werde aber das Ziel des Gesetzgebers, eine möglichst frühzeitige Insolvenzeröffnung zu erreichen, um entweder Sanierungen zu ermöglichen oder die Insolvenzquote zu erhöhen, konterkariert.
Folglich sind nunmehr bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners nach § 17 InsO nicht nur die Aktiva I & II, sondern auch die Passiva I & II gegenüberzustellen. Insofern hat der BGH also für mehr Rechtssicherheit bei der Prüfung gesorgt.
Gleichzeitig hat das Gericht mit dieser Entscheidung allerdings auch das Haftungsrisiko für Geschäftsführer erhöht – insbesondere für solche, die im Vertrauen auf die Geltung der Bugwellentheorie das schuldnerische Unternehmen weitergeführt haben oder gar noch weiterführen. Bei dieser Betrachtung ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass der BGH in Strafsachen seit jeher einen strengeren Maßstab an die Kriterien zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit angelegt hat, als die zivilrechtlichen Senate: So entschied der BGH in Strafsachen bereits in einem Beschluss aus dem Jahre 2007, dass eine Verbindlichkeit im Liquiditätsstatus nur dann nicht anzusetzen sei, wenn hierfür eine Stundungsvereinbarung vorliege. Der IX. Zivilsenat lässt eine Nichtberücksichtigung bereits dann zu, wenn die entsprechende Forderung „nicht ernsthaft eingefordert“ werde.
Weitergehend entschied der Strafsenat bereits im Jahr 2013 darüber hinaus, dass die Zahlungsunfähigkeit nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen durch eine Finanzplanrechnung zu prüfen sei, in die die hinreichend konkret zu erwartenden Einnahmen und Ausgaben der nächsten 21 Tage einzustellen seien. Insofern hat sich der BGH in Strafsachen nie die Bugwellentheorie zu eigen gemacht. Auch im Hinblick auf diese strafrechtliche Rechtsprechung werden es Geschäftsführer, die sich bislang auf die Bugwellentheorie stützten, mit einer Exkulpation zukünftig schwerer haben.
BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16
BGH, Urt. v. 24.05.2005 – IX ZR 123/04
BGH, Beschl. v. 23. 5. 2007 – 1 StR 88/07
BGH, Beschl. v. 21.08.2013 – 1 StR 665/12