Ein englisches Gericht hat im April 2023 den Restructuring Plan für Unternehmen der Adler Group genehmigt (hier und hier, vertieft auch hier), allerdings hat zumindest ein Anleihegläubiger bereits im März 2023 vor dem Landgericht Frankfurt Klage gegen diese Umstrukturierung erhoben (hier). Zwar ist der Ausgang dieses Verfahrens noch offen, allerdings könnte ein Blick auf die sog. „Galapagos“-Entscheidungen von EuGH und BGH Indizien für den Fortgang liefern.
Hintergrund
Im Oktober 2014 erwarb der Finanzinvestor Triton den Anbieter für industrielle Wärmetauscher Kelvion mit Sitz in Bochum (hier). In der Folge hat Kelvion und eine weitere Gesellschaft in eine Holdingkonstruktion namens Galapagos eingebracht und über hochverzinsliche Anleihen im Volumen von mehr als einer halben Milliarde Euro finanziert. Nachdem die Holding Mitte 2019 die Zinsen für die Anleihe nicht leisten konnte und ein Verkauf der Holding drohte (hier), verlegte Triton den Firmensitz der Holding von Luxemburg nach England und leitete dort am 22. August 2019 ein sog. administration-Verfahren ein (hier). Verschiedene Gläubiger von Galapagos reagierten auf diese Bestrebungen, vollstreckten in die Anteile und tauschten die Geschäftsführung der Holding aus. Die neue Geschäftsführung verlegte den Geschäftssitz nach Düsseldorf und unterzeichnete einen entsprechenden Mietvertrag über separate Büroräumlichkeiten. Anfang September 2019 beantragte die Geschäftsführung dann die Eröffnung eines deutschen Insolvenzverfahrens beim Amtsgericht Düsseldorf, das ein vorläufiges Verfahren eröffnete und einen vorläufigen Insolvenzverwalter bestellte (hier). Zwar wurde das Verfahren auf Beschwerde von Gläubigern hin zunächst aufgehoben, aber einige Tage später (immer noch im im September 2019) auf einen neuen Antrag hin erneut eröffnet. Eine der Galapagos-Gesellschaften legte gegen diesen Beschluss Beschwerde mit der Begründung ein, dass der Verwaltungssitz nach England verlegt und deswegen das AG Düsseldorf international nicht mehr zuständig sei. Das englische Gericht hat bis zum Ablauf des 31. Dezember 2020 über den in England gestellten Insolvenzantrag nicht entschieden (s. vertiefend zum Sachverhalt Beschluss des BGH aus 2022 unten).
Die Gerichtsentscheidungen
Der mit der Beschwerde letztinstanzlich befasste BGH legte mit Beschluss aus dem Dezember 2020 dem EuGH insgesamt drei Fragen im zur Auslegung von Art. 3 EuInsVO in diesem Fall zur Vorabentscheidung vor. Der EuGH bequemte sich dann, diese Fragen im März 2022 zu beantworten und der BGH benötigte weitere neun Monate, bis zum Dezember 2022, um zu entscheiden.
Der EuGH hielt zunächst seine bereits in der sog. „Staubitz-Schreiber“ aufgestellte Rechtsprechung (s. hier) aufrecht, wonach „das Gericht eines Mitgliedstaats, das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens befasst ist, für die Eröffnung eines solchen Verfahrens weiter ausschließlich zuständig bleibt, wenn der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners nach Antragstellung, aber vor der Entscheidung über diesen Antrag in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wird.“ Weitergehend entschied der EuGH dann, dass sich „infolgedessen […] ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das später mit einem Antrag mit demselben Ziel befasst wird, grundsätzlich nicht für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens für zuständig erklären [kann], solange das erste Gericht nicht entschieden und seine Zuständigkeit nicht verneint hat.„
Auf die diesbezügliche weitere Frage des BGH entschied der EuGH ferner, „dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das mit einem [zeitlich späteren, d. Verf.] Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens befasst ist, unter derartigen Umständen nicht zu prüfen hat, ob der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners in diesem Mitgliedstaat liegt.“ (s. Rz 41, 42)
Dementsprechend wäre das AG Düsseldorf eigentlich bezüglich der Entscheidung über den zweiten Insolvenzantrag blockiert gewesen, bis das angerufene englische Gericht über den ihm vorliegenden Insolvenzgericht entschieden hätte. Erst recht hätte das Gericht schon wegen des Vorliegens eines zeitlich vorgelagerten Insolvenzantrags in England gar nicht mehr prüfen dürfen, ob sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners (=“Center of Main Interest„, COMI) tatsächlich woanders, als in England befunden hat. Der EuGH nimmt bei der Entscheidung dieser Tatbestandsmerkmale eine rein formalistische Betrachtungsweise ein (und auch der BGH erkennt diese Sperrwirkung in seiner Entscheidung von 2022 an, s. Rz. 30).
Im vorliegenden Fall kam dem AG Düsseldorf aber sozusagen der Brexit zur Hilfe: Denn – wie auch der EuGH ausführte (Rz. 38/39) – war zu berücksichtigen, dass Art. 3 EuInsVO nach Art. 67 Abs. 3 Buchst. c des Austrittsabkommens zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich (hier) nur noch dann und soweit im Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und Mitgliedstaaten Anwendung finden konnte, sofern das Hauptverfahren vor dem Ablauf der in Art. 126 des Abkommens vorgesehenen Übergangszeit eingeleitet wurde. „Sollte daher im vorliegenden Fall festgestellt werden, dass der High Court bis zum Ablauf dieser Übergangszeit, d. h. am 31. Dezember 2020, noch immer nicht über den Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens entschieden hatte,“ so der EuGH weiter, „würde daraus folgen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen von Galapagos befindet, nach der Verordnung 2015/848 nicht mehr verpflichtet wäre, aufgrund dieses Antrags davon abzusehen, sich für die Eröffnung eines derartigen Verfahrens für zuständig zu erklären.„
Wie ausgeführt, entschied das englische Gericht bis zum Abschluss der Übergangsperiode nicht über den ihm vorliegenden Antrag, so dass die Entscheidungszuständigkeit wieder an den BGH zurückfiel. Der BGH entschied daraufhin, dass die Zuständigkeit des AG Düsseldorf zur Entscheidung über den Insolvenzantrag (wieder) gegeben sei. Weiter entschied der BGH (ab Rz. 21), dass der COMI der Holding bei der (deutschen) Antragstellung in Düsseldorf gelegen habe und somit das AG Düsseldorf auch für die Eröffnung des (vorläufigen) Insolvenzverfahrens zuständig gewesen sei. Ferner entschied der BGH, dass dieses Ergebnis auch unter Geltung des autonomen deutschen Internationalen Insolvenzrechts gelten würde (ab Rz. 40; was in Bezug zum Vereinigten Königreich seit dem 1. Januar 2021 ja tatsächlich der Fall ist). Insbesondere gehe die von einem (zuständigen!) deutschen Gericht erfolgte Eröffnung eines Insolvenzverfahrens einer erst später erfolgten Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens auch dann vor, wenn der Eröffnungsantrag beim ausländischen Gericht früher gestellt worden sei und die Eröffnung des ausländischen Insolvenzverfahrens als solche gemäß § 343 InsO anerkennungsfähig wäre. Selbst wenn zum Zeitpunkt der Antragstellung die internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte fehlen würde, genüge es, wenn die internationale Zuständigkeit erst zum Zeitpunkt der Entscheidung begründet ist.
Folgerungen für die Praxis
a) Grundsätzliches
Jenseits dieser – durch die Zufälle des Brexit geprägten – Entscheidung im Falle Galapagos haben BGH und EuGH der Rechtspraxis wertvolle Hinweise mit Fällen von sog. „Forum Shopping“ gegeben. So blockiert nach Ansicht des EuGH der Insolvenzantrag in einem Mitgliedsstaat der EU bis zu einer Entscheidung des zuerst angerufenen Gerichts jegliche Aktivitäten der Insolvenzgerichte in anderen Mitgliedsstaaten. Das zunächst angerufene Gericht prüft auch den COMI, Entscheidungen anderer Gerichte dazu sind nicht zulässig.
Im Verhältnis zu Drittstaaten (außerhalb der EU) nimmt demgegenüber der BGH eine wesentlich „nationalere“ Sicht ein: Die Entscheidungszuständigkeit deutscher Gerichte wird demnach auch durch einen zeitlich vorhergehenden Insolvenzantrag vor einem Gericht eines Drittstaates nicht blockiert, selbst wenn die eigene Zuständigkeit des deutschen Gerichtes (COMI) erst nach Antragstellung in Deutschland überhaupt begründet wird. Und dies selbst dann, wenn das ausländische Gerichtsverfahren nach § 343 InsO in Deutschland anzuerkennen wäre.
b) Adler Group
Überträgt man nun diese Grundsätze auf den Fall der Adler Group, so muss man zunächst feststellen, dass alle Anträge nach der oben genannten Übergangsfrist gestellt wurden, also nach vollzogenem Brexit. Folglich sind die Rechtsfragen im Zusammenhang mit diesem Fall nach dem jeweiligen autonomen nationalen Recht zu beurteilen. Im Fall von Adler ist das Verfahren nicht nur eröffnet, sondern der Restrukturierungsplan ist auch schon vom Gericht genehmigt worden (hier). Dementsprechend stellt sich in diesem Fall „nur“ die Frage nach der Anerkennung der Entscheidung des englischen Gerichts in Deutschland – die sich nach § 343 InO richtet. Die Entscheidung des englischen Gerichts wäre auf jeden Fall dann nicht anzuerkennen, wenn es nicht (örtlich) zuständig für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens gewesen wäre. Unterstellt man, dass der BGH bei der Bestimmung des für die Zuständigkeitseröffnung erforderlichen COMI des Schuldners im Rahmen des § 343 InsO dieselben Maßstäbe unterstellt, wie (bestimmt durch den EuGH) im Rahmen des Art. 3 EuInsVO, dann würde für die Annahme eines COMI in England eine – für dritte erkennbare – Büroadresse in England ausreichen. Im Adler-Fall hat sogar eine englische PLC den Insolvenzantrag gestellt, von daher wäre ein COMI der antragstellenden Gesellschaft in England wohl zu bejahen. Allerdings hatte die englische Gesellschaft scheinbar entweder die Schulden der luxemburger Holding übernommen oder ist diesen zumindest als Schuldner beigetreten. Von daher dürfte die Frage eher sein, ob die Schuld(mit)übernahme wirksam war oder nicht. War sie es, könnte – falls nicht andere Einwände dagegen greifen – der COMI tatsächlich in England liegen und die englischen Gerichte wären für die Entscheidungen (örtlich) zuständig gewesen. Einer Anerkennung in Deutschland würde dann nur noch der sog. „ordre public„-Vorbehalt nach § 343 Abs. 1 Nr. 2 InsO entgegenstehen – das Ergebnis des englischen Restrukturierungsplans dürfte also nicht mit Grundprinzipien des deutschen Rechts vereinbar sein. Der Maßstab bei dieser Prüfung ist allerdings eher hoch, die Ablehnung einer Anerkennung aus diesem Grund erscheint zumindest auf Grund des bisher bekannten Sachverhalts nicht unbedingt wahrscheinlich.
c) Weitere Erwägungen
Trotz der tatsächlich bestehenden Möglichkeit, dass die nach englischem Recht erfolgte Restrukturierung der Adler-Group in Deutschland anerkannt – und die Klage in Frankfurt damit abgewiesen – wird erscheint der Weg über England nach dem Brexit beschwerlich und mit zahlreichen Risiken behaftet:
Eine reine Sitzverlegung und die Entfaltung minimaler Aktivitäten vor Ort in England dürften schon per se nur bedingt ausreichen, um eine gerichtsfeste Verlegung des COMI auch nur annähernd sicher gestalten zu können. Die von der Adler Group etablierte Struktur einer englischen Gesellschaft, die die Verbindlichkeiten aus der Holding übernimmt oder ihnen zumindest beitritt, dürfte für die Beurteilung des COMI aus englischer Sicht durchaus relevant gewesen sein. Wenn die entsprechenden Finanzierungsverträge – wie von einer Gläubigergruppe behauptet – einen derartigen Schuldbeitritt oder Austausch des Schuldners nicht zulassen, dürfte es allerdings schwierig werden, einen COMI in England zu begründen.
Gleichzeitig hängt über derartigen Verfahren – selbst wenn ein COMI aus Sicht englischer Gerichte begründet werden könnte – das Damoklesschwert entgegenstehender Entscheidungen deutscher Gerichte über dem Ausgang der Restrukturierung. Denn selbst der von einem englischen Gericht erlassene Beschluss zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens schließt entgegenstehende Zuständigkeitsannahmen – und entsprechende Entscheidungen – deutscher Gerichte nach autonomem deutschen Internationalen Insolvenzrecht nicht aus. Darüber hinaus bleibt die Frage ungeklärt, ob der BGH im Verhältnis zu Drittstaaten, die nicht Mitglied der EU sind, die vom EuGH gesetzten Kriterien zur Feststellung des COMI weiter fortführen oder auf seine vorherige Rechtsprechung zurückkehren wird, die gerade eine unmittelbar vor Antragstellung erfolgte Sitzverlegung kritisch sah.
Somit besteht das Risiko, dass mehrere Gerichte ihre jeweilige Zuständigkeit annehmen und in der Folge mehrere Insolvenzverfahren miteinander konkurrieren. So stehen sich im Galapagos-Fall zwei Haupt-Insolvenzverfahren gegenüber, ein deutsches Insolvenzverfahren in Düsseldorf und ein englisches (insolvent) winding-down procedure (hier). Die aus dieser Konstellation resultierenden Probleme brauchen hier nicht weiter vertieft werden.
Zu den rechtlichen Risiken gesellt sich die Verfahrensdauer. So ist z.B. die Sanierung des Automobilzulieferers Leonie über ein StaRUG-Verfahren zwischenzeitlich rechtskräftig geworden (hier) – viel schneller, als die Entscheidungen zu Galapagos oder Adler. Verneint im Fall Adler das LG Frankfurt die Zuständigkeit der englischen Gerichte für die Restrukturierung, so müssen sich die beteiligten Manager darüber hinaus die Frage stellen, ob sie angesichts der insoweit vom BGH aufrecht erhaltenen Rechtsprechung in Sachen Q-Cells zur Berücksichtigung entgegenstehender, nicht letztinstanzlicher (!), Rechtsprechung bei Sanierungsentscheidungen (hier) weiterhin am Sanierungsversuch in England festhalten wollen und sich dann – nach mehreren Jahren – möglicherweise dem Vorwurf der Insolvenzverschleppung ausgesetzt sehen.
Vor diesem Hintergrund erscheint es zumindest in der Gesamtschau fraglich, ob die Migration nach England tatsächlich dauerhaft das StaRUG schlägt (so aber noch das Finance Magazin, hier).
BGH, Beschl. v. 17.12.2020 – IX ZB 72/1
EuGH, Urt. v. 24.3.2022 – C-723/20, Galapagos BidCo
BGH, Beschl. v. 08.12.2022 – IX ZB 72/19