War der Terminus „ESG“ vor der Corona-Pandemie eigentlich eher Fondsmanagern und Compliance-/CSR-Beauftragten in größeren Unternehmen ein Begriff, so kommt spätestens seit Jahresbeginn 2022 auch die Restrukturierungsszene nicht mehr um eine Auseinandersetzung mit dieser Terminologie und den dahinter liegenden Konzepten herum. Denn die Einhaltung von ESG-Standards wird bereits jetzt von den Banken als zusätzliches Kriterium bei der Kreditvergabe berücksichtigt und das gilt selbstverständlich auch für Sanierungskredite. Der folgende Artikel beleuchtet die Hintergründe von ESG, der Umsetzung dieser eher wolkigen Begrifflichkeit in supra-nationales und EU-Recht und die bereits jetzt deutlich erkennbaren konkreten Auswirkungen auf die Wirtschaft.
1. Hintergrund
Auch wenn der Begriff „ESG“ („Environment, Social and Governmental„) nicht konkret definiert ist, wird darunter im Allgemeinen der nicht durch finanzielle Kennzahlen messbare ökologisch und gesellschaftlich relevante Bereich der Unternehmensführung verstanden. Es handelt sich also um einen über die finanziellen Aspekte hinausgehenden Bewertungsmaßstab des Kapitalmarkts für die Nachhaltigkeit eines Unternehmens (s. vertiefend dazu hier, hier und hier).
Verschiedene nationale und supranationale Einrichtungen haben in den zurückliegenden Jahren Projekte gestartet, entsprechende ESG-Bewertungsmaßstäbe möglichst global durchzusetzen. So haben sich die Vereinten Nationen im Jahre 2015 auf eine „Agenda 2030“ geeinigt (hier), die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (englisch Sustainable Development Goals, SDGs) festlegt (hier), welche sich – zumindest nach Ansicht der Deutschen Bundesbank (hier, S. 10) – den ESG-Kriterien zuordnen lassen. Die Europäische Kommission hat – auch als Konsequenz aus der vorgenannten UN-Agenda – mit der Mitteilung vom 18. März 2018 zunächst einen „Aktionsplan: Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ (COM(2018) 97 final, hier) bekannt gegeben. In diesem Aktionsplan wurde festgelegt, ein „EU-Klassifikationssystem für nachhaltige Tätigkeiten“ einzuführen, mit dem erklärten Ziel, Kapitalflüsse hin zu einer „nachhaltigen Wirtschaft“ neu auszurichten.
2. Konkrete Schritte in der Europäischen Union
a) Auf Grundlage dieses Aktionsplans hat die EU am 18. Juni 2020 in Form der sog. „Taxonomie-Verordnung“ eine direkt in den Mitgliedsstaaten geltende Verordnung erlassen, die – bezogen auf das „E“(nvironment) in „ESG“ – die ökologischen Aspekte in Finanzierungs- und Investitionsentscheidungen „einfließen“ lassen soll (s. näher zu Struktur und Hintergründen hier, hier und hier).
Durch die Taxonomie werden die Wirtschaftsaktivitäten wesentlicher Branchen, die für eine große Menge des CO2-Ausstoßes verantwortlich sind, kategorisiert („taxiert“) und Schwellenwerte definiert, um bewerten zu können, ob sie als ökologisch nachhaltig einzustufen sind. Die Taxonomie ist als Informationsquelle und Steuerungsmöglichkeit gedacht und damit der Schlüssel, um die öffentlichen und privaten Finanzströme in nachhaltige, insbesondere CO2-neutrale Investitionen zu lenken (s. näher hierzu die Erläuterung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, hier).
Diese Verordnung gilt nach Art. 1 für Mitgliedsstaaten und die EU bei „Maßnahmen zur Festlegung von Anforderungen an Finanzmarktteilnehmer oder Emittenten im Zusammenhang mit Finanzprodukten oder Unternehmensanleihen, die als ökologisch nachhaltig bereitgestellt werden„, für „Finanzmarktteilnehmer, die Finanzprodukte bereitstellen“ und für solche Unternehmen, die von der sog. Bilanzrichtlinie der EU (Richtlinie 2013/34/EU, aktuelle Fassung hier) sowie dem entsprechenden nationalen Umsetzungsgesetz erfasst werden, soweit sie im Rahmen ihres Jahresabschusses eine sog. „nichtfinanzielle Erklärung“ abgeben müssen. Diese Verpflichtung wiederum trifft nach der Größenklassendefinition in Art. 3. der Bilanzrichtlinie grundsätzlich solche Unternehmer, die im Verlauf des Berichtszeitraums zwei der drei folgenden Merkmale überschreiten: Bilanzsumme Euro 20 Mio., Nettoumsatzerlöse Euro 40 Mio. und durchschnittliche Zahl der Beschäftigten über 250 (in Art. 19a EU-RL 2013/34/EU wird die Grenze für die Zwecke der Bilanzrichtlinie erst bei 500 Beschäftigten gezogen).
Die Adressaten der Verordnung müssen, soweit sie zur Abgabe der vorgenannten „Angaben nichtfinanzieller Art“ verpflichtet sind, nach Art. 8 der Taxonomie-Verordnung angeben, inwieweit „die Tätigkeiten des Unternehmens mit Wirtschaftstätigkeiten verbunden sind, die als ökologisch nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten gemäß Artikel 3 und Artikel 9 der vorliegenden Verordnung einzustufen sind.“ Sprich, Unternehmen der oben näher bezeichneten Größenklassendefinition müssen ihre Jahresabschlüsse um Erklärungen ergänzen, aus denen sich ablesen lässt inwieweit das Unternehmen einer ökologisch nachhaltigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht (Art. 3) und die Umweltziele (Art. 9) der Taxonomie-Verordnung erreicht. Die Richtlinie ist in weiten Teilen (zu den Ausnahmen, s. hier) zwanzig Tage nach Verkündung (vgl. Art. 27) in Kraft getreten, gilt also seit dem 12. Juli 2020 als unmittelbares Unions-Recht in allen Mitgliedsstaaten.
b) Die EU-Institutionen werden nach der Veröffentlichung des „Final Report on Social Taxonomy“ (hier) durch die „EU Platform on Sustainable Finance“ nunmehr wohl auch recht zügig das „S“(ocial) in „ESG“ angehen. So legte die die EU-Kommission bereits Ende Februar 2022 den Vorschlag für eine „Richtlinie über die Sorgfaltspflicht gegenüber Unternehmen im Bereich der Nachhaltigkeit“ („Directive on corporate sustainability due diligence“, s. vertiefend hier) vor, die zumindest in Teilen höhere Anforderungen zu stellen scheint, als das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG).
3. Auswirkungen – unintended consequences?
Parallel zu den Taxonomie-Bestrebungen der EU schwillt die Flut von Veranstaltungen (s. nur hier) und Publikationen, ganz neu aufgelegte Fachzeitschriften inbegriffen (z. B. hier und hier), erheblich an. Wohl nicht zu Unrecht, nimmt diese – noch nicht einmal voll „entfaltete“ – Regulatorik doch bereits jetzt erheblichen Einfluss auf die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung. Deutlich zu erkennen ist dieser „Impact“ daran, dass sich die Restrukturierungsbranche – traditionell eher am Ende des Entwicklungszyklus von wirtschaftlichen Branchen und Themenfeldern – bereits jetzt mit dieser Thematik beschäftigen muss (s. nur hier). Denn die Banken berücksichtigen bei der Kreditvergabe verstärkt Nachhaltigkeitskriterien, wobei ein entsprechender Rahmen von der BAFin bereits im Jahre 2019 mit dem „Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken“ (hier) gesetzt worden sein dürfte.
a) (Nachhaltige) Energiegewinnung
Auch der breiteren Öffentlichkeit dürfte aus den Medien die aktuelle Diskussion um die Einstufung von Gas- und Atomkraftwerken als klimafreundlich bekannt sein. Die EU-Kommission hat zunächst – gegen beachtlichen Widerstand (s. nur die Stellungnahme des Umweltbundesamtes hier) – derartige Kraftwerke unter bestimmten Bedingungen als klimafreundlich eingestuft (hier). Die Bundesregierung will gegen diese Einstufung ihr Veto einlegen (hier). Angesichts der mit der Herausnahme dieser grundlastfähigen (wiewohl mit Risiken behafteten) Art der Energiegewinnung, des als Folge des Krieges in der Ukraine jederzeit möglichen Lieferstopps von Erdgas aus Russland sowie der mit dem Rückstand beim Ausbau der sog. regenerativen Energien einhergehenden Einschränkungen bei den Möglichkeiten der Energiegewinnung dürfte sich das Risiko eines großflächigen Stromausfalls, eines sog. Blackouts, wohl beträchtlich erhöhen (s. hier und aktuell hier), sollte man Atom- und/oder Gaskraftwerke nicht als nachhaltig einstufen. Denn mit dem Entfall des Nachhaltigkeitsmerkmals auf diese Arten der Energiegewinnung dürfte eine Finanzierung entsprechender Unternehmen zumindest erschwert werden.
b) Waffenproduktion und Waffenhandel; Rüstung
Spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine und dem Entschluss von Nato und EU, der Ukraine großzügige Unterstützung zu gewähren, wozu auch umfangreiche Waffenlieferungen gehören, ist die Rüstungsindustrie erneut in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Und während sich die Aktienwerte dieser Unternehmen in (freudiger) Erwartung guter Geschäfte drastisch erhöhten (hier) und einige Politiker bereits eine Besteuerung der zu erwartenden „Krisengewinne“ fordern (hier), dürfte für viele Unternehmen aktuell eher die Frage nach der Finanzierung der für das Anfahren oder die Erhöhung der Produktion im Vordergrund stehen. Zwar lässt sich aus Meldungen der Welt entnehmen, dass die entsprechenden EU-Gremien mittlerweile vom ursprünglichen Plan Abstand genommen haben, Waffenhersteller auf gar keinen Fall als nachhaltig zu bezeichnen (hier, s. auch hier). Allerdings beschränken zumindest einige Banken (z.B. die DZ Bank, hier, oder die LBBW, hier, S. 19) die Kreditvergabe für die Waffenproduktion und den Waffenhandel von sich aus bereits jetzt – also ohne regulatorische Vorgaben – sehr stark.
c) Verbrennungsmotor
Schon vor Corona war der Transformationsdruck in der Automobilindustrie hoch, so dass bereits damals Banken ihre Kreditengagements in diesem Bereich kritisch hinterfragten (s. nur hier). Der mittlerweile fortgeschrittene Transformationsprozess führt dazu, dass die Nutzung von Verbrennungsmotoren in Fahrzeugen ihrem Ende entgegen sieht. Zwar ist in den Taxonomie-Kriterien weder ausdrücklich die Rede von „Benzin“ noch „Diesel“ (sondern nur von „festen fossilen Brennstoffen“, also Kohle, s. z.B. Art. 10 Abs. 2 der Taxonomie-Verordnung). Allerdings ist das auch nicht (mehr) erforderlich, denn die EU-Kommission hat – in Abstimmung mit den EU-Mitgliedsstaaten – bereits im Rahmen des sog. „Fit-for- 55“-Programms (s. nähere Erläuterungen hier) festgelegt, den jährlichen CO2-Emissionen neuer Fahrzeuge ab 2035 auf null zu reduzieren (s. auch zu den Plänen einzelner Länder detaillierter hier). Dementsprechend wird sich bei Plänen für die Finanzierung von Vorhaben im (CO2-intensiven) Verbrennerbereich relativ zügig die Frage nach der Kreditfähigkeit des Unternehmens stellen.
4. Konsequenzen für Restrukturierungen
Bereits diese hier kurz skizzierten Themenstellungen verdeutlichen die Probleme, in denen sich schon gesunde Unternehmen wiederfinden können, wenn sie in einer aus Sicht der Nachhaltigkeitskriterien kritischen Branche tätig sind. Gerade in der sich seit Jahren sowieso schon in der Transformation befindlichen Automobilbranche dürfte die EU-Regulatorik für zusätzliches Kopfzerbrechen sorgen. Und Unternehmen aus dieser Branche, die in eine individuelle Krise geraten, werden Schwierigkeiten haben, sich aus der Krise hinaus finanzieren zu können.
Einige Stimmen gehen denn auch davon aus, dass die ESG-Kriterien zu einem Wiederaufleben der eigentlich mit Einführung der Insolvenzordnung ad acta gelegten Frage nach der sog. „Sanierungswürdigkeit“ führen könnte, sprich es nicht mehr alleine um die Sanierungsfähigkeit eines Unternehmens gehen wird, sondern die ESG-Kriterien als gesonderter (nicht-finanzieller) Prüfungspunkt erfüllt sein müssen. Zudem werden die ESG-Kriterien auch Auswirkungen finanzieller Art zeitigen, denn ein in der Krise befindliches Unternehmen wird im Zweifel ebenfalls Investitionen im ESG-Bereich finanzieren müssen, um eine nachhaltige Sanierung sicherzustellen.
Fazit: Die EU selber geht davon aus, dass alleine für die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele im Bereich des Klima-und Umweltschutzes bis zum Jahre 2030 zusätzliche Investitionen von Euro 180 Mrd. jährlich erforderlich sein werden (s. hier). Die Taxonomie soll dafür sorgen, dass diese Mittel effizient eingesetzt werden. Die Auswirkungen der seit knapp zwei Jahren geltenden Taxonomie-Verordnung sind bei Finanzierungsentscheidungen bereits zu spüren. ESG-Kriterien werden absehbar einen steigenden Einfluss auf die Entscheidungen zur Sanierung von Unternehmen haben.
Zwar werden vereinzelt kritische Stimmen zum ESG-Konzept allgemein (s. nur hier, hier und hier) und zur Taxonomie im Besonderen (s. erneut hier) laut, aber insgesamt ist der Chor der Kritiker eher nur leise zu vernehmen, was grundsätzlich verständlich ist, denn wer will sich schon nachsagen lassen, dass er gegen ein ökologisch nachhaltiges Wirtschaften ist? Der iwd mutmaßt dass die Konzeption der Taxonomie zu einem schwarz-weiß-Denken führen, gegenüber marktwirtschaftlichen Instrumenten, wie dem Handel mit Emissionszertifikaten, ineffizienter sein könnte und warnt vor den Kostenfolgen für Unternehmen (hier). Immerhin der Bundesrechnungshof wird in seiner Kritik wesentlich deutlicher und warnt vor „Greenwashing“ sowie den weitreichenden Gestaltungsmöglichkeiten, die der EU-Kommission bei der Umsetzung der Taxonomie zukommen. Damit könnte sie „ganze Industriezweige als nicht nachhaltig klassifizieren und so die industriepolitische Landschaft in den EU-Mitgliedstaaten mitgestalten„. Das gehe zu weit und den Mitgliedsstaaten seien mehr Mitspracherechte einzuräumen (hier). Die Berechtigung dieser Kritik lässt sich schon an Hand der Diskussionen über die Einstufung von Atom- und Gaskraftwerken als nachhaltig anschaulich belegen.
Die oben genannten Beispiele verdeutlichen zudem, dass Zielkonflikte – etwa Klimaschutz vs. Sicherheit der Energieversorgung oder Klimaschutz / Social Responsibility vs. äußere Sicherheit der EU (Verteidigung) – entweder bei der Schaffung der Verordnung nicht erkannt oder nicht berücksichtigt wurden. Klima- und Umweltschutz werden durch diese Taxonomie-Verordnung absolut priorisiert. Zwar werden derzeit diese Zielkonflikte noch mehr oder minder „händisch“, das heißt mit typischen EU-Kompromissen, gelöst. Es bleibt abzuwarten, ob nicht NGO’s versuchen werden, im Klagewege die Priorisierung des Umwelt- und Klimaschutzes gegenüber solch improvisierten Maßnahmen durchzusetzen.
Aus Sicht der betroffenen Unternehmen dürfte zunächst die Komplexitäts- und Kostensteigerung durch die erhöhten Reportinganforderungen ins Gewicht fallen, wenn man nicht bereits jetzt oder in absehbarer Zukunft in einem als „nicht nachhaltig“ identifizierten Bereich tätig ist. Dementsprechend ist aus Restrukturierersicht zu erwarten, dass die Taxonomie-Verordnung individuelle Unternehmenskrisen, wenn nicht herbeiführen, dann doch mindestens verstärken kann.
Herzlichen Dank für diesen wie immer ausgesprochen informativen Artikel.
In der Tat wird durch die mit der Verordnung mögliche Detailsteuerung politischen statt sachlichen Entscheidungen der Weg geebnet. Zumindest theoretisch wäre eine Marktsteuerung über Preise vermutlich überlegen. Bei näherer Betrachtung würde damit das Willkürproblem aber wohl nur auf die Festlegung der Preise verschoben. Die am wenigsten angreifbare Alternative hierzu, nämlich eine Mengensteuerung, aus der sich die Preise am Markt ergeben, ist allenfalls für den CO2-Ausstoß möglich.
Insgesamt könnte daher auch hier geltend, dass die beabsichtigten Regelungen weit weg von optimal, vielleicht aber real gar nicht so schlecht ist.
Besten Dank für die Anmerkung. Legt man die Ziele der Pariser Klimakonferenz zu Grunde, ist es tatsächlich „Drei vor Zwölf“, weswegen das Mikro-Management, das die EU betreibt, durchaus verständlich ist. Ich denke allerdings, das wir sowohl die Ziele aus Paris verfehlen, als auch den Standort D „Aus Versehen“ de-industrialisieren werden.