Nachdem ich bereits im letzten Jahr einige Urteile des 9. Zivilsenats dahingehend interpretiert hatte, dass der BGH die vom Gesetzgeber mit der Reform intendierte Entschärfung des Insolvenzanfechtungsrechts (s. dazu näher hier) vorsichtig nachvollzieht (hier), wird dieser Eindruck nunmehr durch eine aktuelle Entscheidung vom 6. Mai 2021 bestärkt.
Sachverhalt
Pikanterweise betrifft der Sachverhalt eine Anfechtungsklage gegen die Bundesrepublik Deutschland, genauer die Rückzahlung eines Ordnungsgeldes, das vom Bundesamt für Justiz für die Nichtveröffentlichung einer Bilanz verhängt worden war. In der Sache hebt der BGH die Entscheidungen der eine Vorsatzanfechtung nach § 133 InsO verneinenden Vorinstanzen des AG und LG Bonn sogar auf.
Rechtliche Würdigung
Allerdings mit maßgeblichen Einschränkungen seiner eigenen bisherigen Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung. So eröffnet der BGH den eigenen Korrekturreigen mit folgender denkwürdiger Einleitung (Rz. 30):
„Die Rechtsprechung, wonach allein aus der vom Anfechtungsgegner erkannten Zahlungsunfähigkeit gefolgert wird, dieser sei in der Regel auch über den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners im Bilde […], bedarf einer neuen Ausrichtung. Entsprechendes gilt für die Feststellung des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes selbst. Soweit die Rechtsprechung bisher angenommen hat, dass ein Schuldner, der zahlungsunfähig ist und seine Zahlungsunfähigkeit kennt, in aller Regel mit Benachteiligungsvorsatz handelt […], kann ebenfalls nicht mehr allein darauf abgestellt werden, dass der Schuldner seine Zahlungsunfähigkeit kannte. Dies gilt auch für § 133 InsO in der derzeit geltenden Fassung.„
Um dann in Rz. 33 zum rechtsdogmatischen Rundumschlag anzusetzen:
„Der Schluss von der erkannten Zahlungsunfähigkeit auf die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung führt im Falle der Gewährung kongruenter Deckungen zu einem weitgehenden Gleichlauf mit den Voraussetzungen der Deckungsanfechtung nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO und damit faktisch zu einer Verlängerung des nach dieser Vorschrift maßgeblichen Anfechtungszeitraums von drei Monaten auf zehn Jahre nach altem Recht […] und auf vier Jahre nach neuem Recht […]. Das stößt nicht nur auf gesetzessystematische Bedenken. Auch ein entsprechender Wille des Gesetzgebers erscheint zweifelhaft.„
Insbesondere die Deutung des entsprechenden Willens des Gesetzgebers ist angesichts der Begründung zur Reform insbesondere von § 133 InsO (s. dazu hier, insb. S. 10 f.) bestenfalls als euphemistisch zu bezeichnen – die bisherige Rechtsprechung des BGH zu diesem Thema kann getrost als konträr zum ausdrücklich seit 2017 geäußerten Willen des Gesetzgebers bezeichnet werden. Denn der Bundestag selber hatte zur Begründung der Reform eine sehr, sehr lange Liste namhafter Autoren aufgeboten, warum die bisherige BGH-Praxis auf (erhebliche) gesetzessystematische Bedenken stieß. Von daher könnte es durchaus sein, dass der BGH durch den jetzigen Schwenk letztlich einer Entscheidung des Verfassungsgerichts zuvorgekommen ist.
In den nachfolgenden Absätzen konturiert der BGH dann die Eckpunkte seiner neu gefundenen Haltung. So erhöht das Gericht beispielsweise indirekt die Voraussetzungen für den Nachweis der Kenntnis von der drohenden Zahlungsunfähigkeit nicht unwesentlich, indem er das Hinzutreten weiterer Umstände fordert, wenn der Schuldner eben nicht ausdrücklich mitteilt, nicht in der Lage zu sein, eine fällige Zahlungsverpflichtung – auch nicht ratenweise (!) – begleichen zu können (vgl. Rz. 41 f.).
Die in Rz. 36 vom Gericht hervorgehobene zeitliche Ausdehnung des Betrachtungszeitraumes für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz von (bislang) dem konkreten Zeitpunkt der Rechtshandlung hin zu der zu beantwortenden Frage, ob der Schuldner auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht in der Lage sein wird, seine Verpflichtungen vollständig befriedigen können, ist insbesondere im Hinblick auf (rechtsprechungskonforme) Sanierungsbemühungen wichtig. Denn ein entsprechendes Sanierungsgutachten vermag möglicherweise die zukünftige (nachhaltige) Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit somit auch rückwirkend zu belegen.
Die vorstehenden Ausführungen betreffen allerdings – und darauf weist der BGH selber an zwei Stellen (Rz. 10 und Rz. 49 ff.) hin, zunächst lediglich den Vollbeweis des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale des § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO, nicht jedoch die Vermutungsregel des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO, wonach die Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners beim Gläubiger vermutet wird, wenn letzterer wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und dass die Handlung die Gläubiger benachteiligte. Allerdings dürften die nunmehr für die Erbringung des Vollbeweis durch den BGH erhöhten Voraussetzungen auch eine „Abstrahlungswirkung“ auf die Vermutungsregel entfalten.
Fazit
Während ich in der oben genannten Kommentierung aus dem Jahre 2020 (noch einmal hier) noch avor warnte, aus ersten Schwalben bereits einen Frühling abzuleiten, verfestigt sich allein auf Grund der vorgenannten Formulierung der Eindruck, dass der BGH tatsächlich eine (noch vorsichtige) Abkehr von der vielfach kritisierten „Kettenvermutungsregel“ (s. dazu nur Beissenhirtz, ZInso 2016, 1778, 1785, abrufbar hier) vollzieht. Deswegen würde ich die in der gerade laufenden Diskussion über die Auswirkungen dieses Urteils nicht nur von einem „Sturm im Wasserglas“ sprechen (wie hier), auch wenn die tatsächlichen Auswirkungen in der Praxis wahrscheinlich erst in den Folgejahren ersichtlich werden. Denn die Unterinstanzen neigen – wie nicht nur die der BGH-Entscheidungen vorangehenden Urteile der Bonner Gerichte zeigen – schon jetzt häufiger dazu, die vom BGH bislang präferierte „Kettenvermutungsregel“ eben nicht einfach zu übernehmen. Und der BGH hat jetzt – in der ihm eigenen Art – mehr als nur angedeutet, dass er der Kritik aus der Literatur und den daraus folgenden Vorgaben des Gesetzgebers durch die Reform im Jahre 2017 (!) wohl nachhaltig folgen wird. Vorsichtiger Optimismus ist also angesagt.