Die aktuellen Zahlen von Destatis erschließen sich nicht nur für den Fachfremden eher schwer. Denn die Zahl der beantragten Regelinsolvenzverfahren (die auch Insolvenzen von Unternehmen beinhaltet) ging im Juli 2022 zwar um 4,2% gegenüber dem Vormonat zurück wie Destatis aktuell berichtet (hier). Die Zahl der eröffneten Insolvenzenzverfahren über Unternehmen stieg dagegen im Mai 2022 angabegemäß um 11,3% im Vergleich zum Vorjahresmonat. Diese Zahl korreliert aber auch mit dem zuvor schon gemeldeten Anstieg der angemeldeten Regelinsolvenzen für Mai 2022 (hier), sprich die aktuellen Zahlen über eröffnete Verfahren scheinen auf den ersten Blick nur die Zahl der angemeldeten Verfahren zu validieren. Auch meldet Creditreform, dass die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im ersten Halbjahr 2022 gegenüber dem ersten Halbjahr 2021 noch einmal deutlich zurückgegangen sei (hier). Sprich, „same old, same old“? Weiter rückläufige Unternehmensinsolvenzen?
Die Auflösung lässt sich relativ einfach zunächst über den IWH-Insolvenztrend herleiten, wonach die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im Juli 710 betrug und damit so viele Fälle wie im Juni 2022 betraf, aber 11% mehr als im Vorjahresmonat. Berücksichtigt man dann noch, dass die oben genannten Zahlen von Destatis auch die Insolvenzanmeldungen von natürlichen Personen (Verbrauchern) beinhalten, die nach einer (reformbedingten) „Nachhol-Welle“ im Vorjahr nun kontinuierlich auf ein Normalmaß schrumpfen, sprich die Zahl dieser Insolvenzen kontinuierlich sinkt (aber insgesamt deutlich höher liegt, als die der Unternehmensinsolvenzen) dann wird deutlich, dass der Trend (seit Mai) steigender Unternehmensinsolvenzen nicht gebrochen ist, sondern derzeit nur im Monatsvergleich, nicht aber im Vorjahresvergleich stagniert. Zwar muss man die darauf beruhende Prognose des IWH nicht teilen, dass „für die kommenden beiden Monate 20% höhere Insolvenzzahlen als im Vorjahr“ zu erwarten seien. Allerdings erscheint ein weiterer Anstieg im Bereich der Vormonate – also jeweils um 10%/11% – nicht unrealistisch, gerade vor dem Hintergrund der weiter unten aufgezeigten wirtschaftlichen Entwicklung.
Aktuelle Fälle
Der prominenteste „Neuzugang“ dürfte die Pleite der Berliner Kryptobank Nuri sein (hier), die mit Einlagen von Euro 500 Mio. eine ganz beachtliche Dimension aufweist. Aber auch die Rettung (?) des eigentlich in finnischen Händen liegenden Konzerns Uniper durch den Bund ist mehr als nur beachtenswert (hier). Zeichnet sich hier doch eine ähnliche „Rettungslinie“ des Staates ab, wie zu Corona-Zeiten – sprich Finanzspritzen anstelle Nutzung formeller Restrukturierungs- und Insolvenzverfahren. Die Fortbestehensprognose des Immobilienkonzerns Adler dürfte dagegen mit mehreren Fragezeichen versehen sein (hier, auch wenn der neue „Aufräumer“ jetzt nach eigenen Worten „durchziehen“ will, hier). Und auch Windeln.de dürfte nach der Ablehnung des Testats eher in eine ungewissen Zukunft blicken (hier).
Weitere wirtschaftliche Entwicklung
Die weitere Entwicklung der Insolvenzen wird maßgeblich von der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland abhängen. Und die sendet derzeit widersprüchliche Signale:
Nach einem schwachen 1. Quartal, das nur ein Mini-Wachstum von 0,2% sah (mittlerweile revidiert auf 0,8%), stagnierte das deutsche Bruttoinlandsprodukt im 2. Quartal 2022 (hier) und auch sonst kann man die wirtschaftlichen Aussichten schwerlich als „rosig“ bezeichnen (vertiefend dazu mein „Monthly„, hier).
Dementsprechend könnte dem Handelsblatt sein nassforsches Statement, dass die Warnungen der deutschen Automobilzulieferer übertrieben gewesen seien (hier), zwar noch in diesem Jahr gehörig um die Ohren fliegen. Zumindest aktuell scheint das Blatt allerdings so falsch nicht zu liegen, denn zumindest bei (börsennotierten) „Tier 1“ Zulieferern rollt der Rubel ja (das Wortspiel konnte ich mir jetzt nicht verkneifen). Selbst der krisengeplagte Zulieferer Leoni (bei mir zuletzt hier) kommt bislang anscheinend „stabil“ durch die Krise (hier). Die Frage ist, wie es hinter den „Tier 1“ Zulieferern aussieht und ob diese (positive) Vergangenheit in die durchaus ungewisse Zukunft fortgeschrieben werden kann (Atradius setzt da schon mal ein paar Fragezeichen, hier).
Derzeit liefern neben dem Kern der deutschen Wirtschaft – Automotive – aber auch andere deutsche Konzerne gute Zahlen ab, wie die WirtschaftsWoche prägnant zusammenfasst (hier) und heben teilweise ihre Prognosen für das Gesamtergebnis 2022 sogar an (hier). Dementsprechend werden Aktienrückkäufe großer Unternehmen in 2022 wohl einen neuen Höchststand erreichen (hier) – und den vormaligen Höchststand von 2008 (s. Grafik hier) locker übertreffen, was diese Kennzahl nicht gerade zu einem Hoffnungszeichen werden lässt.
Allgemein zieht der Krieg in der UKR die deutsche Wirtschaft in Mitleidenschaft (hier). Wohl auch deswegen fuhr der (ehemalige) Exportweltmeister Deutschland jüngst erst sein erstes Außenhandelsdefizit seit 1991 ein (hier). Das könnte sich als schlechtes Omen erweisen, denn 1993 rutschte die Wirtschaft in die Rezession (hier). Allerdings scheint das deutsche Geschäftsmodell einer exportgetriebenen Wirtschaft noch nicht am Ende zu sein (hier). Der deutsche Konsum dagegen leidet schon (hier) und „ein geringerer Lkw-Verkehr auf den Autobahnen deutet auf einen schwachen Start der deutschen Wirtschaft in die zweite Jahreshälfte hin.“ (hier). Während die Exporte inflationsbedingt sogar noch steigen könnten, dürfte der Konsum genau aus diesem Grund weiter abnehmen. Denn die Inflationsrate dürfte zumindest in den großen westlichen Volkswirtschaften nicht sinken, sondern gegen Jahresende noch weiter steigen und möglicherweise auch in Deutschland zweistellige Werte erreichen (hier).
Für die wirtschaftliche Entwicklung in anderen Ländern benötigt man derzeit keine besonderen prognostischen Fähigkeiten, um die Zeichen an der Wand zu sehen: Wenn 66% der börsennotierten britischen Unternehmen eine Gewinnwarnung herausgeben (hier), allgemein eine (starke) Zunahme britischer Unternehmen in der Krise konstatiert wird (hier) und die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in England und Wales im zweiten Quartal um 81% gestiegen ist (hier), dann dürfte das Krisenwarnung für die britische Wirtschaft genug sein, ohne dass Banksy sie an eine Wand sprühen müsste. Aber auch die Steigerung der Firmeninsolvenzen in Österreich um sagenhafte 121% (!) im ersten Halbjahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr (hier) dürfte für sich sprechen. Auf grundsätzlicherer Ebene sollte die Warnung von Herrn Müller („Wenn Italien scheitert, scheitert womöglich der Westen„, hier) für genug Risikofrüherkennung in Europa und Deutschland sorgen.
In den USA hat derweil die Fed den Kampf gegen die Inflation jetzt aufgenommen – und kräftig die Zinsen erhöht (s. erneut hier, „USA“). Die Befürchtung, dass die Zinserhöhungen der Fed in eine Rezession führen könnten, dürfte so fernliegend nicht sein, vertieft sich die sog. „Inversion“, also der Zinsunterschied zwischen US-Staatsanleihen mit zwei- und zehnjährigen Staatsanleihen doch stetig (hier). Diese Inversion gilt als klassischer Rezessionsindikator. Aber auch die Produktivität der US-Wirtschaft ist auf Rezessionsniveau gesunken (hier).
Fazit: Angesichts der derzeit im europäischen Ausland zu beobachtenden „Nachholeffekte“ bei Unternehmenspleiten kann einem für Deutschland ganz Angst und Bang werden. Auch wenn die extremen Zuwächse, wie sie in Österreich und England/Wales zu beobachten sind, wohl in Deutschland nur in abgemilderter Form auftreten werden, so dürfte TMA Deutschland Recht behalten, wenn sie – gestützt auf aktuelle Branchenumfragen – vor der „Ruhe vor dem Sturm“ warnt (hier). Denn selbst eine „Abkühlung“ der Konflikte in der Ukraine und im Südchinesischen Meer (s. aktuell dazu jeweils hier) wird nicht zu einer sofortigen Auflösung coronabedingter Schwierigkeiten in den Lieferketten führen oder die Inflationsentwicklung auf unbedenkliche Raten schrumpfen lassen. Sprich, selbst wenn die „heißesten“ Themen etwas abkühlen sollten, sorgen andere „hot spots“ schon für genug Reibungspunkte, an denen sich die wirtschaftliche Entwicklung abbremsen dürfte.