Während die Zahl der beantragten Regelinsolvenzverfahren (die auch Unternehmensinsolvenzen beinhalten) im Februar noch um „nur“ 10,8% gestiegen war (meine Kommentierung hier), wuchs sie im März laut Destatis auf 13,2% an (jeweils im Vormonatsvergleich). Die Zahl der eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen von Unternehmen kletterte sogar von 4,3% auf 20,2% an (diesmal im Vorjahresvergleich). Die Zahlen des IWH-Insolvenztrends sehen ähnlich aus: So stieg nach deren Statistik die Zahl der eröffneten Unternehmensinsolvenz-Verfahren im März 2023 um 14% im Vergleich zum Vormonat und 24% im Vergleich zum Vorjahresmonat.
Das IWH ordnet die Zahlen allerdings zudem gut ein – denn selbst mit diesen Steigerungen liegen die aktuellen Insolvenzzahlen immer noch unterhalb derjenigen vor Corona, wenn auch nur noch wenige Prozent. Zudem wird sich der bisherige Anstieg wohl nicht fortsetzen: „Unsere Frühindikatoren lassen für die kommenden Monate aber keinen weiteren Anstieg der Insolvenzzahlen erwarten„, so das IWH.
Aktuelle Fälle
Eigentlich liefern ja Finance (hier) und Juve (hier) jeweils einen guten Überblick über die heißesten Nachrichten aus der „Szene“. Aber zumindest Juve hatte gestern Abend noch nicht das Mode-Unternehmen Gerry Weber auf dem Schirm, das nach einem Schutzschirmverfahren im Jahre 2019 nun erneut die Reißleine ziehen muss und scheinbar in einer Kombi aus StaRUG und eigenverwalteter Insolvenz versucht, sich zu sanieren (hier, zu aktuellen Mode-Insolvenzen siehe die gute Zusammenfassung bei der WiWo hier). Bei Takko übernehmen derweil die Gläubiger (im Wege eines, hier).
Während in den vorigen Monaten Krankenhäuser (hier) und Pflegeheime (hier) die Schlagzeilen dominierten (mit Hansa ist gleich der nächste größere Betreiber umgekippt, hier), sind es jetzt neben den Modehändlern die Schuhhändler: Zur Insolvenz des Großhändler Pölkings (hier) gesellt sich die des Einzelhändlers Reno (hier, die Muttergesellschaft, HR Group, musste auch den Gang zum Insolvenzrichter antreten (hier; erste Erklärungsversuche hier). Im Automotive-Bereich dürfen die Sanierer jetzt bei Leoni neues zum StaRUG lernen (hier und hier), aber auch der Shooting-Star deutscher Elektromobilität, Varta, schwächelt (hier und hier). Aber auch hunderte Bäckereien mussten in 2022 schließen (hier), vielleicht sind die tatsächlich nicht alle in ein Insolvenzerfahren gegangen, aber zumindest haben sie „ihre Produktion eingestellt“, um mal wieder unseren Wirtschaftsminister zu zitieren (s. meine Kommentierung dazu hier).
Personalien
Natürlich dreht sich mit der Zahl der steigenden Insolvenzen auch das Personalkarussell wieder schneller, wenn auch erst mal mit einem scheinbar kompletten Abgang aus der Szene: So wechselt Aderholds Chef-Restrukturierer Thorsten Prigge „unmittelbar operativ in den Mittelstand“ (hier). Der ehemalige Staatssekretär in der nds Regierung, Oliver Liersch, wechselt derweil zu Pluta (hier). Ebner Stolz kleckert nicht mit einzelnen Namen, sondern holt gleich ein ganzes Team von PwC (hier).
Blick ins Ausland
Aktuelle und verwertbare (Monats-Zahlen) liegen weder für die Schweiz noch für Österreich vor, zum einen zeigen die Auswertungen für 2022 (Schweiz hier, Österreich hier und hier), dass in beiden Ländern die Insolvenzzahlen in 2022 signifikant gestiegen sind, während sie aber in der Schweiz damit über dem langjährigen Durchschnitt liegen, blieben sie in Österreich – ähnlich wie in Deutschland – unter dem langjährigen (tiefen) Durchschnitt der Vorjahre. Auch für Großbritannien liegen aktuelle Zahlen noch nicht vor, aber angesichts einer schwächelnden Wirtschaft (hier) gehen die Auguren von einer weiteren Steigerung der Unternehmensinsolvenzen um 21% in 2023 aus (hier), was zu Zahlen weit über den des Vor-Pandemie-Jahres 2019 liegen soll.
Aber auch in den USA steigen die Zahlen extrem: so stiegen die Insolvenzanmeldungen von Unternehmen im März 2023 um 79% (im Vorjahresvergleich). Nach den Bankpleiten von Silicon Valley Bank und Credit Suisse (meine letzte Kommentierung dazu hier) läuft in den USA aktuell ein „Silent Bank Run“ (hier); derweil könnte sich der Immobilienmarkt wieder zu einem Ground Zero für eine Finanzkrise entwickeln (hier).
Prognosen anderer
Die einschlägigen Gremien sind sich über weiter steigende Fallzahlen im Restrukturierungs- und Insolvenzbereich in 2023 einig, so Finance /SMP im 22. Restrukturierungsbarometer (hier) in Bezug auf Restrukturierungen. Der BVR rechnet mit mehr Unternehmensinsolvenzen – sieht aber mit 12% eigentlich auch nur einen moderaten Anstieg voraus (hier). Dagegen prophezeit Allianz Trade mit einem Anstieg von 22% der Unternehmensinsolvenzen für Deutschland mittlerweile eine doch starke Steigerung (hier und hier).
Fazit
Das bisherige deutsche „Insolvenzparadoxon“, sprich beständig niedrige Insolvenzzahlen trotz Polykrise auf Grund Aussetzung Antragspflicht und Verteilung massiver Subventionen (s. zuletzt dazu hier), hat in 2022 begonnen, sich aufzulösen. Glaubt man den Auguren, dürfte sich dieser Prozess in 2023 fortsetzen – auch wenn angesichts aktuell eher positiver wirtschaftlicher Entwicklungen am Jahresende möglicherweise nicht die derzeit „gehandelten“ Zahlen stehen werden, worauf einzig das IWH Halle hindeutet. Allerdings ist fraglich, ob die in früheren Jahren ja als Krisensignal verstandenen Insolvenzzahlen tatsächlich noch das gesamte Ausmaß der Krise widerspiegeln. Zum einen dürften Jahre des Insolvenzparadoxon einen „Mind-Shift“ bei vielen Unternehmern bewirkt haben – man hofft nach wie vor auf Hilfe und wartet mit der Antragstellung. Zudem dürften Steuerberater und Wirtschaftsprüfer die Ihnen nach § 102 StaRUG nunmehr „offiziell“ obliegende Warnpflicht nutzen, um selber Geschäft an Land zu ziehen – und damit vielleicht auch etliche Insolvenzen tatsächlich abwenden. Angesichts der (steigenden) Zahl von Unternehmen in Deutschland (hier) dürfte die Insolvenzquote gleichwohl zu gering sein, um den effektiven Marktaustritt nicht lebensfähiger Unternehmen aus dem Markt zu gewährleisten. Tatsächlich dürften sich die Zeiten auch für Insolvenzverwalter nur bedingt verbessern (hier), eine „Party“, wie 2003 und 2004, als jeweils mehr als 39.000 Unternehmen Insolvenz angemeldet haben, dürfte es 2023 nicht geben. Wenn nicht eine Banken- und Finanzkrise dazwischen kommt.
Neben dem erhöhten „Grundbrummen“ am deutschen Markt dürften die deutschen Insolvenzverwalter zunehmend mit den Konsequenzen struktureller Krisen konfrontiert werden. Nicht umsonst beschäftigen sich zwei aktuelle Veranstaltungen in Berlin mit der Krise im Krankenhausbereich (hier und hier). Der Pflegeheim-Sektor wird eine ähnliche Aufmerksamkeit erfahren. Und auch die Auswirkungen (verfehlter) politischer Entscheidungen auf den Bau- und Immobiliensektor dürfte die Auslastung der Verwalter erhöhen (s. nur hier) – von Automotive ganz abgesehen.
Derweil ziehen aber am für die Verwalter gerade wieder blauen Himmel erneut Wolken aus anderer Richtung auf: So moniert das Handelsblatt, dass Manager das Schutzschirmverfahren nutzen, um ihre Fehlentscheidungen „zu korrigieren“ (hier). Auch wenn man die undifferenzierte Kritik des Kommentars nicht unbedingt teilt, so bleibt angesichts der „Chapter 22“ von Gerry Weber und zuvor Galeria Karstadt doch mehr als ein Geschmäckle. Es steht zu erwarten, dass Politiker diese Kritik gern aufnehmen und mit dem Finger auf die „Insolvenzsanierer“ zeigen werden – nicht zuletzt, um von eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken. Und dann kommt die weitere europäische Harmonisierung.
Sprich, es steht zu erwarten, dass Insolvenz und Verwalter dieses Jahr wieder ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit geraten und erneut „einfache“ Lösungen präsentiert werden – vor allen Dingen, um aus politischer Sicht einen zu starken Anstieg der Insolvenzen zu vermeiden oder zumindest andere Schuldige als sich selber zu präsentieren. Wie schon in den vorherigen Krisen dürften damit eher Symptome denn Ursachen bekämpft werden. Angesichts dessen ist es fraglich, ob die Zeiten – nicht nur für Verwalter – tatsächlich auch langfristig besser werden.