Aktuell scheint der Rückenwind allerdings rapide nachzulassen: Während Destatis „13,9 % mehr beantragte Regelinsolvenzen im Juni 2023 als im Juni 2022“ meldet (hier), sekundiert der IWH-Insolvenztrend, dass die „Zahl der Insolvenzen so hoch wie seit sieben Jahren nicht mehr“ sei (hier). Creditreform ergänzt: „Eine höhere prozentuale Zunahme gab es im Vergleichszeitraum zuletzt 2002.“ (hier, bezogen auf das 1. Halbjahr 2023).
In meiner nun über achtjährigen Betrachtung der Insolvenzzahlen (s. zum ersten Post hier) habe ich schon so manche Trendwende verkündet, die dann doch nicht kam (s. nur hier oder hier). Die Zahl der Insolvenzen in Deutschland ging in dieser Periode stets zurück – auch wenn sie im Ausland teils senkrecht stieg. Dieses Mal könnte es anders sein. Aber zunächst Vorsicht: Die Grafik unter der Meldung von Destatis zeigt , dass die aktuellen Zahlen noch deutlich unter den Werten der Vor-Corona-Zeit liegen. Bislang zeigen die Zahlen tatsächlich nur eine Normalisierung der unnatürlich geringen Zahlen, aber keine Welle. Auch weist das IWH zu Recht darauf hin, dass die aktuellen Zahlen durch die hohe Zahl an Werktagen im Juni zu erklären sei. Dementsprechend teile ich die Auffassung des IWH, dass wir über den Sommer hinweg einen leichten Rückgang der Fallzahlen sehen werden. Für eine Entwarnung besteht gleichwohl kein Anlass, wie ich unten im Fazit begründen werde.
Aktuelle Fälle
Wie immer erlauben die Übersichten bei Finance (hier) und Juve (hier) einen guten Überblick über das aktuelle Fallgeschehen. Im Bereich Automotive sticht natürlich die Insolvenz von Allgaier heraus (hier). Aber auch Leonie kommt nicht zur Ruhe (hier). Nicht nur im Angesicht dieser Fälle titelt die WiWo wohl völlig zu Recht: „Für viele Autozulieferer beginnt jetzt das Endspiel“ (hier). Denn die deutschen OEMs sitzen scheinbar nicht nur auf einem wachsenden Berg an (unverkäuflichen?) Elektro-Autos (hier)), nein, ihnen gehen auch die Aufträge aus (hier). Auch in der bis dato hochgejazzten Startup-Szene kreist wohl vermehrt der Sensenmann (hier). In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob die deutsche Start-up-Blase tatsächlich platzt, wie die Welt hier plakativ titelt (aber auch gut begründet). Die neue deutsche Normalität der Pleiten im Krankenhaus-Sektor wird in diesem Monat von der Krankenhausgruppe Kplus verkörpert, die unter einen Schutzschirm schlüpfte, hier.
Blick ins Ausland
Einen guten Überblick über die teils steilen Anstiege (und Rückgänge!) bei Unternehmensinsolvenzen in Europa im Jahre 2022 liefert Creditreform (hier). Mit einem Anstieg von nur 3,8% liegt Deutschland dabei sogar eher im unteren Drittel der Unternehmensinsolvenzen. Großbritannien dagegen gehört mit einem Plus von 55,9% (TRI geht von einer Steigerung von „nur“ 40% nur für England und Wales aus, hier) fraglos zur Spitzengruppe. Angesichts einer weiterhin sehr hohen Inflation (hier), der deswegen erfolgten Zinserhöhung der Bank of England um gleich 0,5% auf 5,0% (hier) könnte eine Rezession drohen (hier). Die Kombination aus höheren Zinsen und einer Rezession dürfte (nicht nur in England) die Zahl der Insolvenzen nach oben treiben (hier), wobei es dann auch endlich den Unternehmens-Zombies an den Kragen gehen dürfte (hier). In Österreich, das laut Creditreform mit einem Plus von fast 60% in 2022 Spitzenreiter der Unternehmensinsolvenzen war, ist die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im 1. Halbjahr 2023 um weitere über 12% gestiegen (hier). Aber auch in der Schweiz stieg die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 um 17% (hier). Und auch in den USA steigt die Zahl der Unternehmensinsolvenzen auf seit 2010 nicht erreichte Werte (hier).
Prognosen anderer
Angesichts der aktuellen Meldungen eigentlich wenig überraschend prognostiziert die Unternehmensberatung Alvarez & Marsal einen Anstieg der Restrukturierungsfälle (hier). Auch Creditreform (erneut hier) geht davon aus, dass „Im weiteren Jahresverlauf sich der aktuelle Trend steigender Insolvenzzahlen fortsetzen“ dürfte.
Fazit: Die aktuellen Zahlen signalisieren weiterhin nur eine Normalisierung des deutschen Insolvenzgeschehens, die Steigerungsraten und schon die aktuellen Prognosen deuten aber an, dass es – nach einer gewissen (statistischen) „Atempause“ über den Sommer – tatsächlich zu einer signifikant höheren Zahl an Insolvenzen im Vergleich zu den Jahren vor Corona kommen könnte (von einer „Welle“ würde ich gleichwohl noch nicht sprechen).
Die Rahmenbedingungen dafür sind jedenfalls „optimal“: Angesichts mehr als mauer Wachstumsaussichten für die deutsche Wirtschaft (hier, anders allerdings die Bundesbank, die von einer leichten Erholung ausgeht, hier) und einer zumindest in Deutschland hartnäckigen Inflation (hier), verdichten sich damit insgesamt die Anzeichen für eine Stagflation in Deutschland. Der jetzige „Rekordzinssatz“ der EZB trifft auf eine in den Jahren der Negativ-Zinsen angehäufte Rekordverschuldung bei Verbrauchern (hier), wie auch bei Unternehmen (schon etwas älter hier). Von der Verschuldung der öffentlichen Hand (hier), die damit auf „natürlichem Wege“ von weiteren Ausgabenprogrammen abgebracht werden dürfte, ganz zu schweigen. Die derzeit laufende „Investitionsflucht“ (hier, auch ein interessanter Begriff) aus Deutschland dürfte nicht nur ein von Lobbygruppen an die Wand gemaltes Schreckgespenst sein, wie der „Umzug“ des deutschen Traditionsherstellers Duravit nach Kanada zeigt (hier). Ins Bild passt auch, dass nach einer Analyse des BVMW jeder vierte Mittelständler ans Aufgeben denkt (hier). Die Bauwirtschaft wird in diesem Jahr ebenfalls nicht mehr aus dem Tal der Tränen auferstehen (hier). China als Exportziel der deutschen Wirtschaft hat – jenseits aller politischen Diskussionen – genug eigene wirtschaftliche Probleme (hier), um als „Lokomotive“ zu fungieren. Insgesamt wird der durch die Politik des billigen Geldes in den 2010er Jahren angefachte Rückenwind schwächer – und den erfolgsverwöhnten (fetten?) deutschen Unternehmen dürfte es zunehmend schwerer fallen, zu fliegen. Die Politik der Ampel könnte sogar zu einem Strömungsabriss führen (deftig dazu Fleischhauer hier).