Angesichts der neuesten Insolvenzzahlen von Destatis könnte man – wüsste man es nicht besser (s. hier) – wieder in Kaffeesatzleserei (zuletzt hier) verfallen und alle möglichen Trends und Tendenzen in die aktuellen Insolvenz-Zahlen reinlesen. Ich versuche heute mal, einen anderen Weg zu beschreiten.
Zunächst aber zu den profanen Fakten des Monats: Laut Destatis ist die Zahl der Insolvenzanträge für Regelverfahren im September 2022 um 18,4% gegenüber September 2021 gestiegen, die Zahl der über Unternehmen eröffneten Insolvenzverfahren im August 2022 ist um 11,5% im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen (hier). Damit bestätigt Destatis die Prognosen des IWH-Insolvenztrends aus den Vormonaten. Dementsprechend dürfte es nur eine gering ausgeprägte Prognosefähigkeit bedürfen, um für den Oktober 2022 Meldungen von Destatis über erneut sinkende allgemeine Antrags- und Eröffnungszahlen vorherzusagen. Denn der IWH-Insolvenztrend weist für den Oktober 2022 einen „leichten Rückgang“ der Unternehmensinsolvenzen von 762 auf 722 auf Monatsbasis, jedoch einen Anstieg von 15% im Vorjahresvergleich aus (hier).
Schaut man sich die Grafiken auf beiden Seiten an, dann ist man schon fast geneigt, die von RWS aufgeworfene Frage. „Neue Welle oder Ende der Delle“ (hier) mit „weder, noch“ zu beantworten. Eher würde es mich nicht nur angesichts der bisherigen Entwicklung der Insolvenzzahlen, sondern auch der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland (hier) wundern, wenn wir bis Jahresende auch nur eine minimale Steigerung der Insolvenzzahlen sehen werden. Von daher halte ich derzeit schon die Prognose von Allianz Trade, wonach sich die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im Jahr 2022 um 5% erhöhen soll (hier), für fast gewagt. Angesichts dessen, dass die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im ersten Halbjahr 2022 noch um sage und schreibe 4,0% im Vorjahresvergleich zurückgegangen ist (hier), die derzeitigen Zahlen „weiterhin keine Dynamik“ erkennen lassen, wie es der VID so schön euphemistisch ausdrückt (hier), würde es mich schon fast wundern, wenn wir im Gesamtjahr nicht einen weiteren Rückgang der Unternehmensinsolvenzen zu verzeichnen hätten. Möglich halte ich bis Jahresende vielleicht noch eine eindeutige Trendwende – aber eben auch nur für „möglich“.
Aktuelle Fälle & Personalien
Nach einem mauen Vorquartal „boomen“ die Großinsolvenzen wieder (hier). Mit SMA Metalltechnik geht ein weiterer Automobilzulieferer in die Insolvenz (hier). Galeria Karstadt Kaufhof ist – unter Begleitung der „üblichen Verdächtigen“ (hier) mittlerweile ins neuerliche Schutzschirmverfahren gegangen (hier und hier). Derzeit läuft wieder das heitere Rätselraten darüber, welche Filialen den Schnitt überleben werden (hier). Und auch der Schleifmittelhersteller Dronco muss versuchen, sich in der Insolvenz zu sanieren. Derweil gibt es aus der Pleite der MV Werften mal was erfreuliches zu vermelden – für das bislang nicht fertiggestellte Kreuzfahrtschiff „Global Dream“ konnte doch noch ein Käufer gefunden werden (hier). Gar nicht so kleiner Wermutstropfen dabei – der deutsche Steuerzahler darf mal wieder blechen (hier). Ansonsten zeichnen die Übersichten von BakerTilly (hier), Finance (hier) und Juve (hier) sowie Falkensteg (hier) wie immer ein gutes Bild des aktuellen Insolvenzgeschehens. Und – quasi als Überleitung zum internationalen Insolvenzgeschehen – sollen auch die Pleite des Bitcoin-Portale FTX (einige Fun Facts dazu hier) und BlockFi (hier, hier und hier) nicht unerwähnt bleiben.
Während es in den letzten Monaten mit Richard Scholz, der von Wellensiek zu Grub Brugger gewechselt ist (hier), nur einen prominenten Wechsel in der Szene zu verzeichnen gab, könnte sich das Personalkarussell in Erwartung zukünftiger „Wellen“ wieder schneller drehen. So wurde erst kürzlich die Wechsel von Peter Minuth und Wolfgang Pieroth von Piepenburg zur MDP ADLK zum Jahreswechsel und von Hubertus Bartelheimer von Pluta zu Wieselhuber (s. hier) bekannt. Darüber hinaus erschütterte der Tod von Jobst Wellensiek, sozusagen „DEM“ Grandseigneur der modernen Insolvenzpraxis, die Szene (hier).
Blick ins Ausland
Während in Deutschland die Insolvenzzahlen derzeit eher stagnieren, sind im europäischen Ausland ganz andere Entwicklungen zu verzeichnen: So ist in England und Wales die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im dritten Quartal 2022 um 40% gestiegen (hier). In der Schweiz stieg die Zahl der Firmeninsolvenzen im Oktober 2022 um über 31% im Vorjahresvergleich an, in den ersten zehn Monaten des Jahres stieg die Zahl gar um 35% (hier). In Österreich legte die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in den ersten neun Monaten des Jahres 2022 um 51% zu (hier). Derweil laufen sich in Italien die NPL „warm“ (hier). So sehen Tsunamis aus.
Prognosen anderer
Scheinbar in „froher Erwartung“ der steigenden Insolvenzzahlen wird im deutschen Blätterwald gerade wieder „thought leadership“ verbreitet – sprich, eine Studie jagt die andere. Dabei ist schon auf Grund des langen Untersuchungszeitraums das „21. Restrukturierungsbarometer“ (hier und hier) von SMP und Finance hervorzuheben. Demnach geht es mit voller Fahrt in die Rezession und eine steigende Zahl von Restrukturierungsfällen ist ausgemacht. Nach Crif-Bürgel sind „10 Prozent der Unternehmen in Deutschland insolvenzgefährdet – Anstieg der Firmeninsolvenzen in 2022 und 2023 prognostiziert“ (hier). Atradius rechnet derweil mit Insolvenzanstieg im Maschinenbau (hier). In Global Turnaround skizzierte Christoph Schiller von Anchor kürzlich erst die Probleme, denen sich Geschäftsführer in Deutschland aktuell gegenüber sehen (hier). Wohl nicht ganz zu Unrecht befürchten die WiWo (mit Rückgriff auf Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, hier) und der Spiegel (hier), dass die deutsche Industrie entweder auf der Strecke bleibt oder seine Produktion in andere Länder verlegt.
Fazit: Wie im letzten Monat (erneut hier), so grenzt auch in diesem Monat die Erklärung für die ausbleibende Insolvenzwelle in Deutschland letztlich an Kaffeesatzleserei. Angesichts des mittlerweile durch zahlreiche europäische Staaten durchlaufenden „Insolvenz-Tsunamis“ würde ich der Erklärung, dass die Bundesregierung effektiv eine Insolvenzwelle seit Corona durch stetige Eingriffe ins Insolvenzrecht (s. zuletzt das sog. „SanInsKG“, hier) gepaart mit der „Mutter aller Gießkannen“ von Hilfsprogrammen, bislang „erfolgreich“ verhindert hat, allerdings durchaus zuneigen. Denn die Zurückhaltung bei Finanzhilfen zu Beginn dieser Krise (als es noch hieß „„Stoßdämpfer“ und „Schutzschilde“ statt „Bazooka““, hier) hat die Politik erkennbar wieder abgelegt. Zumindest die ankündigten Hilfsprogramme nehmen sich erneut gigantisch aus (s. Übersicht hier).
Wie schon hier vermutet, verfestigt sich bei mir der Eindruck, dass auf Grund des Zusammenspiels zwischen diesen Hilfsmaßnahmen auch in dieser Krise viele Unternehmen vom Prinzip Hoffnung leben und keinen Insolvenzantrag stellen werden. Man versucht, auch diese Krise „abzuwettern“. Das dürfte der Bundesregierung nicht ungelegen kommen, dürfte sie doch nicht auf steigende Insolvenzzahlen als Zeichen einer schwächelnden Wirtschaft scharf sein. Bereits mittelfristig dürfte das aber kein gutes Zeichen für die deutsche Wirtschaft und Bevölkerung sein. Denn nicht nur der aktuelle Absturz der Leistungsfähigkeit der Deutschen Bahn belegt eindrücklich, dass in Deutschland einiges schief läuft. Von daher sollte die Regierung eher den Aufruf des VID befolgen: „Mehr Insolvenzen wagen!“ (hier). Denn wie auch die – nur knapp verhinderte – Kernschmelze des britischen Finanzsystems wegen eines „überreizten“ Anleihe-Marktes zeigt (hier, s. Abschnitt über England), droht auf Grund der ausufernden Ausgaben für die diversen Hilfsprogramme möglicherweise ein Crash am Anleihemarkt – sowohl für öffentliche Schuldtitel (hier) als auch für solche von Unternehmen (hier). Dieser Crash könnte z.B. auch durch die oben geschilderte Pleiten im Krypto-Währungsbereich ausgelöst oder verstärkt werden – eine (weitere) ausgewachsene Finanzkrise erscheint nicht ausgeschlossen (hier). Sollte es dazu kommen, erscheint es zweifelhaft, dass diese Neuauflage von 2008/2009 noch einmal so glimpflich für die deutschen Unternehmen ausgeht.
Die aktuelle Kaffesatzleserei kann man so zusammenfassen, dass eine „Insolvenzwelle“ für Deutschland am Horizont derzeit nicht absehbar erscheint – zu (psychologisch) wirksam scheint die Gießkanne der Hilfsprogramme zu sein. Das Beispiel der Fast-Kernschmelze am britischen Anleihemarkt verdeutlicht aber, wie fragil das Finanzsystem derzeit schon ist. Eine (durch Bitcoin-Pleiten ausgelöste?) ausgewachsene Finanzkrise würde mit ziemlicher Sicherheit die zahlreichen Hilfsprogramme quasi ins Leere laufen lassen, mit der fast sicheren Folge einer Insolvenzwelle. Ansonsten aber dürfte Deutschland über den Winter eher Probleme mit der Abwanderung von (energieintensiven) Branchen haben, als mit einer Vielzahl von Insolvenzen.
* Danke nst für die Idee zu dieser passenden Überschrift!